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1989 – die Wende Warum gibt es keine Hymne zum Mauerfall?

Im kollektiven Gedächtnis ist «Wind of Change» der Soundtrack zum Mauerfall. Nach einer ostdeutschen Hymne sucht man aber vergebens – in der turbulenten Zeit wollte kein Lied so recht passen, das gesprochene Wort hatte die Macht. Welche Rolle spielten Lieder in der Zeit der Wende? Eine Spurensuche.

Sehen wir die Bilder vom Berliner Mauerfall 1989, haben wir sofort ein Lied dazu im Kopf: «Wind of Change» von den Scorpions. Der vermeintliche Soundtrack passt aber zeitlich eigentlich gar nicht. Das Lied wurde zwar im Sommer 1989 geschrieben, aber erst 1990 erschien es auf Platte. Hinzu kommt: Es untermalt die westdeutsche Version der Geschichte. Welche Lieder haben die Menschen in der DDR durch die turbulente Wendezeit begleitet?

Die Stimmung im langsam untergehenden Staat beschreibt der rockig-wilde Song «S.O.S.» von Silly, ein Hilferuf vom Narrenschiff DDR, erschienen im Februar 1989. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von der politischen Führung missverstanden und fremdbestimmt: «Immer noch schwimmt da vorn der Eisberg / Nur die Spitze ist zu sehn / immer noch träumen wir von Heimkehr / und vertraun dem Kapitän.» Ein ähnliches Gefühl der Passivität beschreibt Gerhard Schöne in «Das weisse Band»: «Vielleicht sind wir mitschuldig / Sind zu lasch, zu geduldig / Leben nicht überzeugend / Fremden Willen uns beugend / Statt uns wild aufzubäumen.»

Das Lied für alle fehlt Zu einem «gemeinsamen Lied» werden diese Lieder aber nicht: Ab dem Moment, wo sich die DDR-Bürgerinnen und Bürger zu wehren beginnen – zum Beispiel mit den Montagsdemonstrationen – verlieren die Texte der Lieder langsam an Gültigkeit. Auf den Demos wären sie aber nicht nur thematisch fehl am Platz gewesen. Kaum jemandem stand der Sinn nach einem Lied – zu brenzlig war die Situation.

«Es gab auch gar kein Lied, mit dem sich jeder hätte identifizieren können», vermutet die Schauspielerin Claudia Wenzel, die bei den Leipziger Demos von Anfang an dabei war: «Unter den Demonstranten waren ganz verschiedene Leute, Arbeiter, Künstler, Lehrer, Studenten und alle hatten ganz unterschiedliche Liedgüter.» Als Sound der Massenproteste schreiben sich vor allem die rhythmischen Sprechchöre in die Geschichte ein: «Wir bleiben hier», «Gorbi Gorbi», «Schliesst euch an» oder das bekannte «Wir sind das Volk». Wenzel findet, dass auch das irgendwie Musik war.

Konzerte werden zum Politikum

Mehr als konkrete Lieder sind es die Konzerte, die den Nerv der Endzeitstimmung in der DDR treffen. Kritische DDR-Rockmusikerinnen und Liedermacher schliessen sich zusammen: «Morgen hauen wir auf die Pauke» oder «Hierbleiber für Hierbleiber» heissen die frenetisch bejubelten Abende. Sie wurden zum Podium, um die sich täglich ändernde politische Lage zu verdauen und dem Ärger Luft zu machen.

Dabei fordert das Publikum die politische Stellungnahme der Musiker ein. Dem werden sie mit gesprochenen Kommentaren und einer Resolution gerecht, die sie jeweils vor ihren Konzerten verlesen. Darin heisst es: «Wir wollen in diesem Land leben, und es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert beziehungsweise ignoriert werden.»

Gassenhauer in der Nacht des Mauerfalls

Ähnlich scharf tönt es in den Kundgebungen fünf Tage vor dem Mauerfall auf dem Alexanderplatz in Berlin. Vor einer halben Million Menschen singen die Liedermacher Kurt Demmler, Jürgen Eger, Gerhard Schöne und Wenzel/Mensching. Aber auch hier ist das gesprochene Wort die primäre Ausdrucksform, nicht die Musik. Und die Masse singt nicht mit, sondern hört gebannt zu.

Nach Bekanntgabe der neuen Reiseregelung pilgern ganze Karawanen nach Westberlin. «Wir sind mit unserem himmelblauen Trabant losgefahren und standen erst einmal zwei Stunden im Stau», erzählt Klaus Koch, Chef des Berliner Musikverlags Buschfunk. In Westberlin angekommen wurde Bier spendiert, gefeiert, und gemeinsam sangen Ost und West Gassenhauer wie «Griechischer Wein» oder «So ein Tag, so wunderschön wie heute.» – «Das waren meistens Lieder aus Westdeutschland, denn nur die kannten auch wirklich beiden Seiten», erzählt Koch.

Alte Lieder mit neuer Bedeutung

Mit der Nacht auf den 10. November verbindet er aber kein konkretes Lied: «Es war für mich nicht die Zeit der Lieder, ich hatte ganz andere Dinge im Kopf. Ich war in einer Art Schockstarre, weil ich null Ahnung hatte, wie mein Leben weiter verlaufen wird.» Ungefähr so müssen sich viele DDR-Musiker gefühlt haben. Es dauert, bis sie den grossen Umbruch in eigenen Liedern verarbeiten. Der Liedermacher Gerhard Schöne zum Beispiel nahm sich erst mal eine lange Kreativpause – zu verwirrt war er von der turbulenten Wendezeit.

Zwar entstanden im Taumel um den 9. November wenig neue Lieder, aber alte veränderten ihre Bedeutung: Plötzlich passten sie zum Zeitgeist. Zum Beispiel «Irrenhaus» von Keimzeit: «Irre ins Irrenhaus / Die Schlauen ins Parlament / Selber Schuld daran, wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt», singt der Sänger Norbert Leisegang mit seiner typischen näselnden Stimme. Er erzählt: «Dieser Song war in Deutschland zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber als ich ihn 1986 schrieb, habe ich einfach nach phonetisch passenden Wörtern gesucht, ohne gross über den Inhalt nachzudenken.»

Verwertung durch die Musikindustrie

Zur ostdeutschen Wende-Hymne wurde aber auch «Irrenhaus» nicht. Auch hier wieder das Problem: Zu diffus waren die Vorstellungen, wohin es mit der DDR gehen soll, zu schnell überschlugen sich die Ereignisse. Kein Lied konnte da Schritt halten, und so hinterlässt ausgerechnet die emotionale Wendezeit eine Lied-Lücke.

«Vielleicht ist das der Raum, den die Scorpions mit ‹Wind of Change› für sich besetzen konnten», sinniert Klaus Koch. «Das zeigt für mich auch, wie die Verwertungsbedürfnisse der Musikindustrie sofort nach der Wende Einzug hielten», sagt er. Und wundert sich, dass es zwar das Wort «sprachlos» gibt, nicht aber das Wort «liedlos».

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