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Paul Grüninger: Rückblick und Ausblick mit Stefan Keller
Aus Kultur-Aktualität vom 22.02.2022. Bild: KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str
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50. Todestag Paul Grüninger «Paul Grüninger hat im entscheidenden Moment das Richtige getan»

Vor 50 Jahren starb Paul Grüninger, der Kommandant der St. Galler Kantonspolizei. 1938/39 rettete er zahlreiche Flüchtlinge und verlor damit Karriere und Ruf. Das Buch des Historikers Stefan Keller gab Impulse zur Aufarbeitung.

Seit 1968 gibt es Versuche, Paul Grüningers Ruf wiederherzustellen. Fünfmal scheiterte das Vorhaben. Der Verein «Gerechtigkeit für Paul Grüninger» beauftragte 1990 den Historiker und Journalisten Stefan Keller, den Fall aufzuarbeiten. Der Kanton St. Gallen wollte – im Hinblick auf eine mögliche Rehabilitierung – mehr über den entlassenen und 1940 verurteilten Polizeikommandanten erfahren.

Der Kanton sprach Gelder und gewährte Stefan Keller Zugang zu den Archiven. Kisten von ungeordneten Akten standen im Lesesaal des Staatsarchivs. Und: «Beim Räumen des Büros eines ausgeschiedenen Regierungsrats fand sich in seinem Pult ein unvollständiges Dossier, das hinter einer Schublade hinuntergefallen war», sagt Keller.

Wer war Paul Grüninger?

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Paul Grüninger war Lehrer, wurde als linker Stürmer 1914/15 mit dem SC Brühl St. Gallen Schweizer Fussballmeister und nach der Rekruten- und Offiziersschule Leutnant der Versorgungstruppen. Er trat 1919 ins Landjägerkorps des Kantons St. Gallen ein, wurde 1925 zum Hauptmann befördert und damit kantonaler Polizeikommandant.

Grüninger rettete hunderte jüdische und andere Flüchtlinge – andere Schätzungen sprechen von bis zu 3'000 Menschen – vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Er liess sie auch nach der Grenzsperre vom 19.8.1938, die der Bundesrat verfügt hatte, einreisen. Er datierte etwa die Einreise der Menschen vor.

Im Frühjahr 1939 flog die Sache auf. Der Regierungsrat enthob Grüninger seines Amtes. 1940 verurteilte ihn das Bezirksgericht St. Gallen wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung. Er verlor auch seine Pensionsansprüche. Der zweifache Vater brachte danach seine Familie als Vertreter und Aushilfslehrer durch. 1971 ehrte ihn die israelische Stiftung Yad Vashem für seine Verdienste um die Flüchtlinge.

Die Rehabilitierung in der Schweiz gelang erst im sechsten Anlauf: 1993 durch den St. Galler Regierungsrat auf politischer Ebene, 1995 hob das Bezirksgericht St. Gallen das Urteil von 1940 auf. Die damalige Schweizer Flüchtlingsgesetzgebung wurde als unvereinbar mit rechtsstaatlichen Prinzipien erklärt.

In mehreren Städten, u.a. in St. Gallen, Jerusalem und Stuttgart, gibt es heute einen Paul-Grüninger-Platz. Das Stadion des SC Brühl St. Gallen ist seit 2006 nach ihm benannt. Seinem Gedenken widmet sich die Paul Grüninger Stiftung.

Zwei Jahre Recherchearbeit

Er arbeitete ab Anfang 1991 Akten und Zeitungsausschnitte auf und suchte nach Flüchtlingen, die Paul Grüninger gekannt haben könnten. «Dadurch bekam die Geschichte eine ganz andere Dynamik. Ich befragte fünfzig, sechzig Menschen, von Wien bis in die USA. Ohne Paul Grüninger wären sie nicht mehr am Leben.» Stefan Keller arbeitete zwei Jahre an dem Buch und rückte die Flüchtlinge ins Zentrum, die Menschen, denen die Menschlichkeit des Polizeihauptmanns das Leben rettete.

Menschlichkeit war sein Motiv

«Paul Grüninger war ein biederer, anständiger Polizeibeamter und Fussballfan, der im richtigen, im entscheidenden Moment das Richtige getan hat und nicht das, was die Obrigkeiten von ihm wollten.» So charakterisiert ihn Historiker Keller. Woher nahm der freisinnige Armee- und Polizeioffizier seine humane Ethik, die ihn bewegte, hunderten Flüchtlingen das Leben zu retten? Immerhin liess er sie trotz bundesrätlicher Grenzsperre ins Land einreisen.

Stefan Keller kontert: «Ich würde die Frage umkehren: Woher haben die anderen die Härte gehabt, die Leute über die Grenze zurückzuschicken?» Im benachbarten Thurgau habe der Polizeikommandant, «der soziologisch ähnlich eingebettet war wie Grüninger, das Gegenteil gemacht und noch am Tag, als die Amerikaner im Neuenburger Jura die Grenze erreichten, in Kreuzlingen Leute in den Tod ausgeschafft».

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Die wiedergewonnene Ehre des Paul Grüninger
Aus Kulturplatz vom 06.03.2013.
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Ein Märtyrer der Geschichte

An Paul Grüninger wurde 1939 ein Exempel statuiert, damit sein Verhalten nicht Schule machte. Hätten nämlich mehr Beamte in Verantwortungspositionen gehandelt wie er, wäre die bundesrätliche Grenzsperre vom 19.8.1938 unterlaufen worden. Stefan Keller: «Es gibt einen Brief von Heinrich Rothmund, dem damaligen Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, in dem er die Basler Regierung an dem Fall Grüninger erinnert und droht. Weil die Basler beschlossen hatten, mit den Ausschaffungen aufzuhören.»

Buchhinweis

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Stefan Keller: «Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe», Rotpunktverlag, Zürich, 248 Seiten. Erstauflage: 1993. Aktuell in der 8. Auflage.

In Leserbriefen tauchten immer wieder Gerüchte auf, Grüninger habe von den Flüchtlingen Geld genommen oder Beziehungen zu weiblichen Einreisenden gepflegt, sagt Stefan Keller. Er habe diese Geschichten «positiv zu beweisen» versucht. Das sei nie gelungen.

Der lange Weg zur Rehabilitierung

Grüningers Handlungen waren selbstlos, entsprangen einzig seinem Gewissen, seiner Menschlichkeit, sagt Keller. Der Beamte bezahlte dafür mit seiner Karriere, seinem Ruf und seinem Pensionsanspruch. Nach seiner Entlassung im Jahr 1939 sollte es über ein halbes Jahrhundert dauern, bis er rehabilitiert wurde.

Drei Menschen halten Schilder in der Hand mit der Aufschrift «Paul Grüninger»
Legende: Mitglieder von «Aktion Kinder des Holocaust» übergeben am 21. Oktober 1993 die Unterschriften der Petition zur Rehabilitierung von Paul Grüninger an den Regierungsrat des Kanton St. Gallen. KEYSTONE/Regina Kuehne

Ein wichtiger Impuls dafür war Stefan Kellers Buch «Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe». Es erschien 1993, worauf der St. Galler Regierungsrat Paul Grüninger schliesslich politisch rehabilitierte. Das Urteil von 1940 hob das St. Galler Bezirksgericht 1995 auf. Spät erst und postum erfuhr der mutige, menschliche Polizeikommandant doch noch Gerechtigkeit.

Und heute?

Wie erginge es heute einem Polizeioffizier, der sich bundesrätlichen Anordnungen widersetzt und Menschen illegal ins Land einreisen liesse? Die Situation lasse sich nicht vergleichen, sagt Stefan Keller. «Ein Polizeikommandant ist nicht mehr die Machtfigur von damals.» Und er fügt hinzu: «Wir haben das Flüchtlingsproblem heute nicht direkt an der Grenze. Wir haben es ausgelagert. Die Leichen werden nicht in Rorschach angespült, sondern in Italien.»

SRF2 Kultur, Kultur Aktualität, 21.02.2022, 8:06

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