Zum Inhalt springen

75 Jahre Israel «Konflikte verschwinden nicht, sie werden gemanagt»

75 Jahre nach der Gründung befindet sich Israel im Dauerzwist, der unlösbar scheint. Einige versuchen es trotzdem.

Der Staat Israel feierte am Montag seinen 75. Geburtstag. Der Kleinstaat im Nahen Osten ist heute eine Hightech-Nation, die sich in einer der grössten innenpolitischen Krisen ihrer Geschichte befindet. Und wird immer «orientalischer», erklärt Yves Kugelmann, Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins «tachles».

Das moderne Israel sei vor allem ein europäisches Projekt, so Kugelmann: «Doch durch Einwanderer aus dem arabischen Raum, aus Afrika und der ehemaligen Sowjetunion sind immer mehr Menschen eingewandert, die nicht-demokratisch sozialisiert sind. Das führt zu Verwerfungen, wie die Proteste gegen die geplante Justizreform von Ministerpräsident Netanjahu zeigen.»

Deradikalisierung der Bevölkerung

Nicht nur die Demografie innerhalb des Kernlandes ändert sich, auch jene im von Israel besetzten Westjordanland oder in Ost-Jerusalem. «Der ungelöste politische Konflikt ist das eine. Das andere sind Auswirkungen bis tief in die Gesellschaften hinein, die immer sichtbarer werden», sagt Kugelmann.

So werden etwa jüdische Siedler mithilfe US-amerikanischer Spendengelder mitten in arabischen Quartieren Jerusalems angesiedelt.

Kugelmann arbeitet derzeit an einer Dokumentation zu Israels blühender Zivilgesellschaft, in der auch ein Projekt der Schweizer DEAR Foundation gezeigt wird.

Das macht die Schweizer DEAR Foundation

Box aufklappen Box zuklappen

Die Stiftung, die seit 15 Jahren in Silwan, einem Stadtteil Ost-Jerusalems, arbeitet, gibt jenen Jugendlichen eine Perspektive, die sonst keine haben. In einem von gesamthaft sechs umgebauten Häusern lernen sie Hebräisch, Englisch, den Umgang mit der Polizei und wie sich die Provokationen beider Seiten vermeiden lassen.

Das Ziel sei, Menschen, deren Zusammenleben auf engstem Raum nicht vorgesehen sei, im Alltag zu deradikalisieren und Gewalt zu verhindern, sagt die Präsidentin der Stiftung Sonja Dinner anlässlich eines Projektbesuchs in Silwan.

Ziel der Stiftung: Deradikalisierung. «Viele Palästinenser glauben, jeder Jude sei ein Siedler. Sie wissen gar nicht, dass es ausserhalb von Silwan, einem Stadtteil Ost-Jerusalems, viele Jüdinnen und Juden gibt, die gegen die Zustände hier kämpfen», erklärt Stiftungspräsidentin Sonja Dinner.

In der israelischen Bevölkerung tut sich etwas

Diese Menschen haben alle Hände voll zu tun. Gemäss dem israelischen Zentralbüro für Statistik leben über 600’000 Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Tatsächlich dürften es viel mehr sein, erklärt Yves Kugelmann. Ultraorthodoxe und palästinensische Kinder würden von der Statistik nicht erfasst. Soziale Not und ungleiche Bildungschancen betreffen alle Teile der Gesellschaft und waren Ausgangspunkt des Filmprojekts.

Foto einer Gasse, rechts sitzt verhüllte Person am Boden, in der Mitte läuft älterer Mann mit Stock, dahinter Menschen
Legende: Soziale Not und ungleiche Bildungschancen betreffen laut Kugelmann nicht nur Eingewanderte aus Äthiopien oder Russland und Palästinenser, sondern alle Teile der Gesellschaft. Imago / Nurphoto / Beata Zawrzel

Ausserhalb Israels würde über die Zweistaatenlösung oder «Road Maps for Peace» nachgedacht.  Aber, so Kugelmann, Politik werde «on the ground» gemacht.

Und «on the ground« tut sich gerade einiges. Seit der von der rechts-konservativen Regierung angekündigten Justizreform demonstrieren liberale Israeli im Wochentakt für die Demokratie. «Kaum eine Gesellschaft hat einen so starken demokratischen Reflex an den Tag gelegt, wie Teile von Israels Bevölkerung der Gegenwart.»

Israel baut Brücken in die Welt

Dies spiegle sich auch in der Reaktion der Israeli auf die sogenannten Abraham-Abkommen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain von 2020 und der Etablierung gegenseitiger diplomatischer Beziehungen und Flugverbindungen wider.

«Israeli, Jüdinnen und Juden haben diese Chance sofort genutzt: leben und arbeiten heute in Dubai oder gehen dort in die Ferien.» Zum Ärger der palästinensischen Autonomiebehörde, die von Verrat an der Sache der Palästinenser spricht. Israeli vernetzten sich, wollten Handel betreiben, da seien sie ihren arabischen Nachbarn sehr ähnlich, so Kugelmann.

Was heisst das für die nächsten 75 Jahre? «Ich denke, es ist nicht anders als mit anderen Konflikten. Sie gehen nicht zu Ende, die Menschen lernen irgendwann, sie zu managen», sagt Kugelmann.

SRF 1, Sternstunde Religion, 14.05.2023, 10:00 Uhr

Meistgelesene Artikel