Schon lange steht die ENA (École nationale d’administration) als Ausbildungsort für die Elite Frankreichs in der Kritik: Denn die 1945 gegründete Schule ist zum Symbol der sozialen Ungleichheit geworden. Ein Abschluss an der ENA öffnet Türen für Top-Etagen in Verwaltung, Politik und Privatwirtschaft – vor allem für die reiche Pariser Oberschicht.
Nun hat Präsident Emmanuel Macron angekündigt, die Verwaltungshochschule zu schliessen. Sorgt die Abschaffung der ENA tatsächlich für mehr Chancengleichheit?
SRF: Die Eliten in Frankreich stehen seit den
Gelbwestenprotesten
sehr unter Druck. Ist Macrons Ankündigung ein stückweit Symbolpolitik?
Jürgen Ritte: In gewisser Weise ist es Symbolpolitik, ja. Aber ich glaube Emmanuel Macron, der ja selber Absolvent der ENA ist, hat schon verstanden, dass die Ausbildungsform der Hochschule nicht mehr zeitgemäss ist – und auch nicht mehr den Anforderungen entspricht, die der Staat an seine zukünftigen Eliten stellen muss.
Ein anderes Problem der ENA ist ja auch, dass sie gar nicht mehr das tut, wofür sie eigentlich geschaffen ist. Nämlich hohe Beamte für den Staatsdienst auszubilden.
Meine Bedenken sind, dass sich die alten Probleme in der neuen Hochschule wiederholen.
Sondern?
Sehr viele ENA-Absolventen gehen direkt in die Industrie und steigen dort in jungen Jahren in relativ hohe Positionen ein. Das ist ein grosses Problem. Über die Jahre ist so ein System entstanden, das die Eliten sowohl im Staat als auch in der Wirtschaft von vornherein sklerosiert, weil viel zu viele junge Leute die Aufstiegschancen innerhalb von Betrieben und der Verwaltung blockieren.
Ist die Abschaffung der ENA ein wirksames Vorgehen, um mehr Chancengleichheit für höhere Ämter herzustellen?
Ich bin da etwas skeptisch. Denn geplant ist ja nicht die Abschaffung der Verwaltungshochschule per se. Es wird einfach eine andere Hochschule geschaffen – das «Institut de Service Public», wo die Verwaltungsbeamten zukünftig ausgebildet werden. Meine Bedenken sind, dass sich die alten Probleme in der neuen Hochschule wiederholen. Das wäre ein sehr französischer Ablauf. Aber wir müssen abwarten.
Meine Skepsis ist auch mit einem kleinen Hoffnungsschimmer verbunden.
Wie soll sichergestellt werden, dass es an diesem neuen «Institut de Service Public» besser um die Chancengleichheit steht?
Durch eine grössere geografische Ausdifferenzierung. Das Institut für den öffentlichen Dienst soll nämlich an 17 verschiedenen Orten entstehen. Durch diese Vielzahl von kleinen ENAs kommt man mehr in die Regionen hinein.
Das soll dann auch garantieren, dass etwas breitere Bevölkerungsschichten rekrutiert werden können und das ganze Land flächendeckend ein ENA-Angebot hat. So hätten auch sogenannte bildungsferne Schichten eine Chance, in die höchsten Staatsämter aufzusteigen.
Wie optimistisch sind Sie, dass sich durch solche Massnahmen im elitären Machtsystem der französischen Gesellschaft wirklich etwas verändert?
Auch da bin ich skeptisch. So etwas versucht man in Frankreich ja schon seit langem. Die Frage ist auch, inwieweit sich das Institut de Service Public freimachen kann von den bisherigen Rekrutierungsstrukturen. Das heisst es darf keine Concours und Wettbewerbsaufnahmen geben, sondern Aufnahmen aufgrund der Dossiers von Bewerbern.
Immerhin ist das Ganze eine Chance. Denn dass man so eine Eliteanstalt auflöst, ist neu. Insofern ist meine Skepsis auch mit einem kleinen Hoffnungsschimmer verbunden.
Das Gespräch führte Irene Grüter.