Zum Inhalt springen

Allein zu zweit Warum schwere Krankheiten uns einsam machen

Wer für einen bedürftigen Menschen sorgt, lernt eine neue Form des Alleinseins kennen. Sie verrät viel über unsere Ängste.

Eigentlich wollte die Journalistin Gabriele von Arnim ihren Mann nach langer Ehe verlassen. Doch am selben Tag, als sie ihm ihren Entscheid mitteilt, erleidet er einen Schlaganfall, einige Tage später den zweiten.

Sie entscheidet sich, doch bei ihm zu bleiben. Von Arnim schreibt in ihrem Buch «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand» eindrücklich über dieses neue Leben mit der Krankheit.

Ihr Mann, der lange Zeit als Fernsehjournalist arbeitete, liegt nun «mit wachem Geist hinter Mauern». Denken kann er noch, nur sich mitteilen funktioniert nicht mehr so wie früher. Niemand versteht ihn mehr – ausser Gabriele von Arnim selbst, die in den Jahren bis zu seinem Tod zu einer Übersetzerin zwischen ihm und der Aussenwelt werden sollte, und der angestellten Pflegerin.

Wie Münze und Magnet

Das Thema Einsamkeit ist dabei in unterschiedlichsten Formen in ihrem neuen Leben ständige Begleitung. Krankheit und Einsamkeit, schreibt sie, seien wie Münze und Magnet, sie ziehen sich magisch an. Warum? «Weil wir Angst vor Krankheit haben», erklärt sie.

Wir würden zu wenig über sie reden, sagt von Arnim, wir schieben sie an den Rand. Denn solange es mich nicht angehe, müsse ich mich nicht darum kümmern. Krankheit sei nicht nur ungewohnt, sondern auch bedrohlich.

Die deutsche Philosophin Barbara Schmitz beschäftigt sich schon länger mit Themen rund um Behinderung und Krankheit. Auch sie vermutet, dass die Berührungsängste in Bezug auf das kranke Leben damit zusammenhängen, dass wir nicht an unsere eigene Verletzbarkeit erinnert werden wollen.

«Viele Menschen», sagt Schmitz, «die schwere oder chronische Krankheiten haben, bekommen das Gefühl, dass sie ansteckend sind. Doch das, was ansteckend ist, ist nicht die Krankheit, sondern das Gefühl, im Leben immer unsicher zu stehen.»

Mit so einer Angst verbunden ist auch immer das gesellschaftliche Bild von Krankheit. Diese, sagt Barbara Schmitz, funktioniere als eine Art Gegenbild zu unseren verankerten Werten und Normen wie Stärke, Autonomie, Unabhängigkeit, Leistung und Aktivität. Krankheit dagegen wird schnell zu einem grossen Defizit. Manchmal wird sie sogar als eine Art von Erfolgslosigkeit gesehen und bewertet. 

Sie war einsam, aber nicht allein

Wie schnell allerdings die Konzepte von Autonomie und Unabhängigkeit durcheinandergewirbelt werden können, haben Gabriele von Arnim und ihr Mann erlebt: Beide fanden sich auf einmal in einer komplett neuen Abhängigkeit wieder, in der sie zwar Einsamkeit, aber paradoxerweise wenig Allein-Sein erlebten.

Da ist sie, die sich um ihn kümmern muss und als Fluchtorte die Literatur und das Kaffeetrinken beibehält. Da ist er, der keine richtige Privatsphäre mehr erlebt. Immer kommt jemand ins Zimmer, die intimsten Dinge werden in einer Halböffentlichkeit ausgetragen. Dass Kränkung im Wort Krankheit steckt, habe sie erst in diesen Jahren verstanden.

Ein anderes Bild von Krankheit

Doch was heisst es eigentlich, krank zu sein? Barbara Schmitz macht sich für ein Bild von Krankheit stark, das vielleicht dazu führen kann, Berührungsängste sinken zu lassen. Für sie versteht man Krankheit am besten, wenn man sie mit einem unbekannten Land vergleicht.

Das von der britischen Philosophin Havi Carel entworfene Bild stellt sich eine schwere Krankheit als ein fremdes Land vor, mit einer eigenen Kultur und eigenen Regeln, Gesetzen und Normen. Diese seien für Aussenstehende zwar nicht gänzlich nachvollziehbar. Aber dennoch bestehe die Möglichkeit, etwas daraus zu lernen.

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Barbara Schmitz: «Was ist ein lebenswertes Leben. Philosophische und biographische Zugänge». Reclam, 2022.

«Dieses Bild», sagt Schmitz «schafft es gut, diese neue Art von Erfahrung, die Fremdheit und das Anders-Sein, zu der es durch radikale Krankheitserfahrungen kommt, wahrzunehmen – gleichzeitig aber auch zu sehen, dass man auch etwas daraus mitnehmen kann».

Den Schmerz aushalten

Für dieses Verständnis von Krankheit braucht es allerdings Offenheit. «Man muss die Neugier auf dieses fremde Land auch erstmal haben», sagt Gabriele von Arnim. «Ich weiss, dass selbst enge Freunde, die oft kamen und da waren, selbst nie wirklich begriffen haben, was Krankheit leben bedeutet.»

Was sie sahen, sei der Schein gewesen, den von Arnim aus Angst, dass sonst niemand mehr zu Besuch kommen würde, aufrechtzuerhalten versuchte. Denn ein unentbehrlicher Halt in diesen Krankheitsjahren bestand aus einer Gruppe von 17 Menschen, die ihrem Mann aus Büchern vorlasen.

Das Grosse im Kleinen sehen

Dennoch war der Kontakt nach aussen schwer. Denn Krankheit sehen, sagt von Arnim, bedeute Schmerz zu empfinden, den viele fast nicht aushielten. Es braucht Kraft, den Magnet von der Münze zu trennen und Krankheit möglicherweise anders zu begreifen. Vielleicht eignet sich das Bild eines unbekannten Landes gut dazu.

Was von Arnims Mann in der Krankheitszeit gelernt habe, war, die kleinen Dinge wahrzunehmen. Die Rosen auf dem Balkon etwa.

Heute, nach dem Tod ihres Mannes nach zehn Krankheitsjahren sagt von Arnim: «Wenn ich jetzt auf meinem Balkon stehe und die Rosenpracht sehe, die ich ganz allein geniessen soll, gibt es Momente, in denen ich mich nicht nur allein, sondern auch einsam fühle. Denn das Teilen von Schönheit ist noch wichtiger als das Teilen von Gram.»

Sie sind einsam? Hier finden Sie Hilfe

Box aufklappen Box zuklappen

Es gibt verschiedene Stellen, an die sich Menschen in suizidalen Krisensituationen wenden können. Rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 13.11.2022, 11:00 Uhr

Meistgelesene Artikel