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Facetten einer Volkskrankheit «Einsamkeit hat in unserer Gesellschaft einfach keinen Platz»

Ob alt oder jung, alleinstehend oder bestens vernetzt: Einsamkeit kann alle Menschen treffen. Drei Betroffene erzählen.

Wie rutscht man in die Isolation ab? Und warum ist es so schwierig, darüber zu sprechen? Einsamkeit hat viele Gesichter, aber selten eine Stimme – dabei fühlt sich jede dritte Person in der Schweiz einsam. Warum also nicht einfach einmal zuhören. Drei anonyme Betroffene berichten.

R.H. – «Auf dem Lebensweg einen Abzweiger verpasst»

«Ich bin in die Einsamkeit gerutscht, weil ich mich nie damit befasst habe. Weil Einsamkeit etwas ist, was nur die anderen betrifft. Als Teil eines tollen Kollegenkreises feiert man von Donnerstag bis Samstag durch und sonntags liegt man irgendwo in die Sonne. Nichts liegt ferner als die Angst, zu vereinsamen.

Ein junger Mann blickt in den Spiegel.
Legende: Angst vor dem Blick in den Spiegel hat R.H. nicht. Aber er fürchtet die Ferien und Wochenenden – seit viele seiner Freunde Familie haben, noch ein bisschen mehr. SRF/Simon Krebs

Doch ehe man sich versieht, ist der ganze Kollegenkreis verheiratet. Eigenheime werden gebaut, Familien gegründet. Selber in einer Beziehung sah ich dies mit einer gewissen Lässigkeit. Wir lebten unser ‹Double Income no Kids›, alles war wunderbar. Bis die Beziehung in die Brüche ging und ich plötzlich allein dastand.

Natürlich: Der Kollegenkreis ist noch vorhanden, man hält auch lose Kontakt. Aber zum Bier trifft man sich nur noch zwischen Dienstag und Donnerstag. Die Wochenenden gehören der Familie. Die Ferien sowieso. Selbst wäre man wohl keinen Deut besser.

Vielleicht bin ich ein wenig introvertiert – vermutlich eine Voraussetzung für Einsamkeit. Aber ich bin durchaus in der Lage, ein angenehmer Gesprächspartner zu sein. Ich schaue in den Spiegel und denke: Ich bin zwar keine 20 mehr, sehe aber auch nicht aus wie etwas, was die Katze aus dem Regen ins Haus geschleppt hat.

Ich bin der klassische Typ, der gefragt wird: ‹Warum bist du denn Single?› Nun, weil ich irgendwo auf dem Lebensweg einen Abzweiger verpasst habe, welchen alle anderen genommen haben, und nun verloren auf weiter Flur stehe.

Die herausforderndste Zeit ist der Sommer. Zu keiner anderen Jahreszeit wird einem so sehr vorgelebt, wie wichtig ein intaktes soziales Umfeld ist. Und wie sehr man ausser der Norm ist, wenn man dieses nicht hat.

Stellt euch einen kompletten Sommer im Lockdown vor: Ihr könnt weder Grillabende bei Kollegen verbringen, noch zusammen im Boot auf dem Fluss treiben. Kein ausgedehnter Apéro in den lauen Abend hinein, kein Open-Air-Kino, kein Festival. So erleben Einsame die tollste Zeit des Jahres.

Das Schlimmste sind aber die Ferien. Es fallen einem tausend Dinge ein, welche man gerne unternehmen möchte – aber eben nicht allein. Mein persönliches Highlight der letzten Wochen: Ich liess ein Flugticket nach London einfach verfallen, weil mir plötzlich vor der Einsamkeit in der Grossstadt graute.

Ein Mann in einem Kanu.
Legende: Paddelplausch? Eher nicht. Mit einem Sommer im Lockdown vergleicht R.H. das Gefühl seiner Einsamkeit. Er lässt auch mal vorsorglich eine Städtereise ins Wasser fallen. SRF/Simon Krebs

Der Einsame kann direkt neben uns stehen. Mitten im Leben, bei bester Gesundheit und mit einer ordentlichen Arbeit. Gut gekleidet, freundlich, lächelnd, eine adrette Erscheinung. Er wird nie zugeben, wie er sich fühlt und dass jeder freie Tag eine seelische Qual darstellen kann.

Und auch wenn uns der Verdacht beschleichen könnte, trauen wir uns nicht, ihn darauf anzusprechen. ‹Fühlst du dich manchmal einsam?› Ich fürchte, die Frage nach einer peinlichen Geschlechtskrankheit würde uns einfacher von den Lippen gehen. Weil Einsamkeit in unserer Gesellschaft einfach keinen Platz hat.»

Einsam? Hier finden Sie professionelle Hilfe

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Es gibt verschiedene Stellen, an die sich Menschen in suizidalen Krisensituationen wenden können. Rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos.

C.M. – «Für Besuche reicht meine Energie nicht»

«Ich leide an diversen körperlichen sowie psychischen Erkrankungen und bin deshalb 2018 erwerbsunfähig geworden. Der Verlust meiner Teilzeit-Arbeitsstelle bei einer Schweizer Klinikgruppe bewirkte eine weitere Destabilisierung und hat mich endgültig in die soziale Isolation abrutschen lassen.

Ich kämpfe mit dem Schmerz und der inneren Leere der Einsamkeit. Obwohl mir meine Eltern und Schwester treu zur Seite stehen, was ich sehr zu schätzen weiss, fühle ich mich oft einsam, da ich allein wohne und mir ein Gegenüber für einen regelmässigen Austausch fehlt.

Eine junge Frau allein in einer Wohung
Legende: C.M. tut sich schwer damit, der «Abwärtsspirale von Einsamkeit und daraus resultierender Niedergeschlagenheit sowie Hoffnungslosigkeit zu entkommen». SRF/Simon Krebs

Meine gesundheitlichen Beschwerden verunmöglichen es mir meistens, meine eigenen vier Wände zu verlassen, um zum Beispiel spazieren zu gehen. Die Natur wäre für mich eine immense Kraftquelle, die ich aber krankheitsbedingt nicht im gewünschten Masse nutzen kann.  

Auch sportliche Tätigkeiten, die einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden haben, fallen natürlich weg. Mit meinen (wenigen) Freundinnen pflege ich losen Kontakt via WhatsApp. Für Besuche reicht meine Energie leider nicht, und sie selbst sind verständlicherweise zu absorbiert, um sich häufiger zu melden.

Neben der Einsamkeit peinigt mich das Gefühl, persönlich versagt zu haben.
Autor: C.M.

Schliesslich bin ich in einem Alter (Jahrgang 1985), in dem der Alltag der Mehrheit durch die berufliche Tätigkeit und/oder das Familienleben bestimmt beziehungsweise ausgefüllt ist. Ich kann es zudem nachvollziehen, wenn sich die Menschen um mich herum aus Überforderung distanzieren und auf Nachrichten nicht reagieren.  

Mir scheint es sehr schwierig, dieser Abwärtsspirale von Einsamkeit und daraus resultierender Niedergeschlagenheit sowie Hoffnungslosigkeit zu entkommen. Die soziale Isolation verschlechtert den Gesundheitszustand zusätzlich, was wiederum zu einem weiteren Rückzug führt.  

Eine junge Frau, nachdenklich auf einem Bett sitzend.
Legende: «Für Besuche reicht meine Energie nicht»: C.M. hat seit ein paar Jahren mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, die sich durch ihre Einsamkeit noch verstärken. SRF / Simon Krebs

Doch versuche ich, mich an den kleinen Glücksmomenten zu erfreuen und jene Kostbarkeiten wertzuschätzen, die ich trotz allem manchmal geniessen darf: eine spannende Lektüre, ein schönes Lied, eine inspirierende Sendung oder die seltenen Augenblicke in der wundervollen Natur.

Der Schmerz der Einsamkeit bleibt indes präsent und nährt die Zweifel an mir und der Sinnhaftigkeit meiner (nur Kosten generierenden, der Gesellschaft aber keinen Nutzen bringenden) Existenz, was mich stark belastet. 

Neben der Einsamkeit peinigt mich das Gefühl, persönlich versagt zu haben und an den Herausforderungen des Lebens gescheitert zu sein, obgleich ich unter sehr positiven Bedingungen aufwachsen konnte. Für dieses Misslingen geniere ich mich weitaus mehr als für die Tatsache, dass ich einsam bin.»

M.S. «Ich mag mich selbst nicht»

«Ich bin 22 Jahre alt und vor einem Jahr zum Studieren vom Land nach Berlin gezogen. Ich bin frei, ich lebe in einer WG und hatte viel Spass. Jetzt habe ich immer noch Spass, aber ich bin einsamer denn je. Dazu kommen Akne, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit.

Meine drei Mitbewohnerinnen kennen sich noch aus der Schule. Eine von ihnen hat ihren Geburtstag bei uns in der Wohnung gefeiert. Sie hat alle ihre Freundinnen eingeladen. Ich sass bei ihnen, aber man hat mich eigentlich ignoriert, wenn auch nicht absichtlich.

Junge Menschen sitzen an einem Tisch
Legende: «Man hat mich ignoriert»: M.S. über ein Geburtstagsfest in ihrer Studentinnen-WG. SRF/Simon Krebs

Ich war treibende Kraft für die Geschenkauswahl für zwei meiner Mitbewohnerinnen. Beim Geburtstag der dritten hatte ich Corona, aber ich habe eine Geburtstagskarte geschrieben. Keine von ihnen hatte mir etwas zum Geburtstag geschenkt. Die Mitbewohnerin, der ich die Karte schrieb, hat mir nicht mal gratuliert.

Viele Menschen in Berlin sind grausam.
Autor: M.S.

Ich dachte immer, wir verstehen uns gut. Man sollte nie Gegenleistungen von Menschen erwarten, dann ist man glücklicher. Aber ich bin nicht glücklich. Mein bester Freund hat meinen Geburtstag vergessen. Eine meiner besten Freundinnen auch und der erste Mann, den ich mir als Ehemann vorstellen konnte, hat sich ebenfalls vertan.

Nachts liege ich im Bett und höre, wie meine Mitbewohnerinnen mit ihren Freunden schlafen. Meine Liebe des Lebens hat mich verlassen. Viele Menschen in Berlin sind grausam. Man ist austauschbar. Man wird geghostet, und man ghostet selbst, besonders nach One-Night-Stands. Menschen verletzen mich, und ich verletze Menschen. So geht es immer weiter. Ich mag die Person, die mich nicht mag und umgekehrt. Wenige meinen es ernst.

Eine junge Frau starrt auf ihr Handy.
Legende: «Man wird geghostet, und man ghostet selbst»: M.S. über ihr Leben in der Grossstadt. SRF/Simon Krebs

Eigentlich muss ich zur Therapie, aber keine Praxis hat einen Platz für mich. Und wenn doch, dann nur über monatelanges Beantragen von Anträgen und Warterei. Trotzdem habe ich eine sehr gute Freundin hier in Berlin.

Wir waren in der gleichen Situation. Gleiches Alter, neu in der Stadt, neu an der Uni. Ich liebe sie sehr. Sie hat meinen Geburtstag nicht vergessen. Ich höre Sätze wie: ‹Gib Berlin Zeit, du findest schon noch deine Leute, schlaf doch nicht sofort mit ihm.› Ich weiss auch nicht mehr, was ich dazu sagen soll.

Ich mag mich selbst nicht. Äusserlichkeiten meine ich nicht. Ich glaube, ich bin sogar echt schön. Aber ich passe nicht gut genug auf mich auf, weil ich mich schlichtweg hasse. Vieles in meinem Leben ist anders gelaufen als bei den meisten Menschen in meinem Alter.

Oft habe ich das Gefühl, für meine Trauer und Einsamkeit verantwortlich gemacht zu werden.
Autor: M.S.

Ich weiss, ich bin noch sehr jung, aber ich verabscheue es, wenn Menschen mir sagen, ich solle mich entspannen und dankbar sein für alles, was ich habe. Oft habe ich das Gefühl, für meine Trauer und Einsamkeit verantwortlich gemacht zu werden.

Eine meiner besten Freundinnen, die auch meinen Geburtstag vergessen hat, antwortete mir monatelang nicht auf WhatsApp. Sie hatte keine Lust, sich meine sechsminütige Sprachnachricht anzuhören. Ein Geschenk hat sie mir zum Geburtstag auch noch nicht geschenkt. Wieso trage ich Schuld an meiner Situation? Wieso muss ich immer alles lernen, einsehen und akzeptieren?

Eine kleine Aufmerksamkeit wie ein Geburtstagsgeschenk jedoch lässt mich meine Sorgen für eine kurze Zeit vergessen. Kleine Dinge, wie ein fehlendes Geburtstagsgeschenk oder eine lang unbeantwortete WhatsApp-Nachricht können einsam machen. Ich habe Angst, dass mir niemand glaubt. Ich will nicht mehr um Aufmerksamkeit kämpfen. Ich will nicht mehr weinend unter der Dusche stehen.»

Was hilft bei Einsamkeit? Das rät die Psychologin

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Sie fühlen sich manchmal einsam? Hier sind vier Tipps von Stephanie Karrer, Psychologin und Expertin im SRF-Instagramformat «Me, myself and why».

  • Ursache erfassen – Um das Gefühl Einsamkeit anzugehen, hilft es, erstmal seine Wurzel zu erfassen: Was genau macht Sie einsam?
  • Raus aus dem Teufelskreis – Einsamkeit beeinflusst unsere Wahrnehmung. Wir nehmen oft nur noch das wahr, was uns einsam macht und interpretieren unsere sozialen Interaktionen entsprechend. Damit verstärkt sich das Gefühl von Einsamkeit immer mehr. Ihre Sicht ist immer nur eine Möglichkeit, eine Situation zu deuten. Das zu wissen hilft, den Teufelskreis zu erkennen – und aus ihm auszusteigen.
  • Darüber sprechen – Sprechen Sie an, wie Sie sich fühlen, fragen Sie nach Hilfe und nach Gesellschaft. Viele Menschen sind ab und an einsam. Sie sind nicht allein.
  • Selbstwirksamkeit – Einsamkeit greift unser Gefühl von Selbstwirksamkeit an. Es hilft, wenn wir merken, dass wir selbst etwas gegen die Einsamkeit tun können. Uns freiwillig engagieren, über die sozialen Medien verknüpfen, (professionelle) Unterstützung suchen – und vieles mehr.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 13.11.2022, 11:00 Uhr;

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