Lange Zeit wussten die Schwestern nichts von diesem Mann: ihrem genetischen Vater. Es war nicht einfach, ihn zu finden. Nachdem sie ihn endlich getroffen hatten, waren die beiden jungen Frauen erstaunt, dass es nebst Unterschieden auch Parallelen zu ihm gibt: dass er ebenso gerne Ski fährt wie sie oder, genauso wie der soziale Vater, gut zeichnen kann.
Die Eltern von Nora und Fabienne schwiegen lange Zeit darüber, dass ihre Töchter mithilfe einer anonymen Spermienspende gezeugt wurden. Das war 1997 und 1999. Seit 2001 ist die anonyme Spermienspende in der Schweiz verboten. Denn gemäss der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder ein Recht darauf, ihre Abstammung zu kennen.
Fabienne und Nora heissen in Wirklichkeit anders und wollen nicht erkannt werden. Nicht, weil sie mit dem Thema an sich Mühe hätten, im Gegenteil: Sie finden, dass offener über Spermienspenden gesprochen werden sollte. Deshalb haben sie sich bei SRF gemeldet, nachdem sie einen Beitrag zum Thema gehört hatten.
Aber: In der Familie der Schwestern und im Freundeskreis wissen noch nicht alle von der Spermienspende. Sie wollen selbst bestimmen, wer es wann und wie erfährt.
Ein Bauchgefühl
Bereits als Kinder spürten die beiden Schwestern, dass etwas mit ihrer Familie nicht stimmt: Nora dachte, ihr Vater hätte schon einmal eine Familie gehabt. Fabienne war überzeugt, adoptiert zu sein. «Das war eine Möglichkeit, die ich aus Büchern kannte. Eine Spermienspende kam mir als Kind nicht in den Sinn», erinnert sich die 24-Jährige.
Hätte ich nicht die Bilder meiner schwangeren Mutter gesehen, hätte ich es als Kind nicht geglaubt.
Für diese Annahme – adoptiert zu sein – sprachen auch die äusserlichen Unterschiede: Die Mutter sei eher der dunkle, südländische Typ mit geraden Haaren. Die Tochter ist hell und hat Locken. «Hätte ich nicht die Bilder meiner schwangeren Mutter gesehen, hätte ich es als Kind nicht geglaubt», sagt Fabienne. Nora ergänzt: «Deine Locken wurden immer mit Verweis auf Papi erklärt und auch deine Augen sind ihm ähnlich.»
Bei der Spermienspende in Lausanne achtete man darauf, dass der Spender dem sozialen Vater ähnlichsieht. Das ist bis heute so, insbesondere bei heterosexuellen Paaren. Es soll möglichst nicht auffallen, dass der soziale und genetische Vater nicht derselbe sind.
Die Enthüllung
Vor fünf Jahren haben die Eltern von Nora und Fabienne ihr Schweigen gebrochen. Es geschah eher aus Zugzwang: Nora war zu dieser Zeit in einer Klinik, wegen psychischer Probleme. In ihrer Therapie ging es auch um die Familienkonstellation.
Zuhause erzählte die Tochter davon. «Da wollte uns unser Papi unbedingt von der Samenspende erzählen. Er hat das richtig forciert. Ich fand das bemerkenswert, er hätte ja mehr zu verlieren gehabt. Unsere Mutter hätte weiterhin schweigen wollen, glaube ich. »
Und dann sagte er, dass er nicht unser genetischer Vater ist.
Mithilfe einer Therapeutin bereiteten sich die Eltern darauf vor, das Familiengeheimnis zu enthüllen. Die Töchter wurden zur Therapiesitzung bestellt. «Unser Vater sagte, wie wir hier versammelt sind, ist unsere Familie nicht komplett», erzählt Nora. «Ich dachte, dass wir Geschwister hätten, die gestorben sind.»
Fabienne fährt fort: «Und dann sagte er, dass er nicht unser genetischer Vater ist. Dass wir durch eine Samenspende gezeugt wurden.»
Das Erste, was die Schwestern dachten: «Wir wollen nicht, dass unser Vater nicht unser Vater ist», erinnert sich Nora. «Klar haben wir immer noch sehr viel von unserem sozialen Vater», ergänzt Fabienne, «alleine schon durch seine Erziehung und sein Verhalten. Aber im ersten Moment war es schon ein Verlustgefühl».
Bei Nora kam Trauer darüber auf, mit ihrem sozialen Vater nicht genetisch verbunden zu sein. Fabienne war wütend, weil die Eltern so lange geschwiegen hatten. Unterdessen wurden diese Emotionen verarbeitet. Die Beziehung zum sozialen Vater hat nicht gelitten, findet Nora: «Unser Papi ist und bleibt unser Vater, auch emotional hat sich nichts verändert.»
Professionelle Hilfe
Die Schwestern finden es gut, dass die Eltern damals Unterstützung holten. «So kann man es nicht herauszögern, weil man einen Termin hat. Und jemand Externes kann Emotionen auffangen und moderieren», begründet Fabienne.
Die professionelle Unterstützung müsste schon viel früher beginnen.
Auch Daniel Drewniak spricht sich für professionelle Hilfe aus. Der Bioethiker und Medizinsoziologe forscht an der Universität Zürich zu und mit Menschen, die mittels Spermienspende gezeugt wurden.
Er ist überzeugt: «Die professionelle Unterstützung müsste schon viel früher beginnen, damit Eltern bereits vor der Zeugung darauf vorbereitet werden, eines Tages mit ihren Kindern über die Spermienspende zu reden.»
In seiner Forschung hat Drewniak mit Menschen zu tun, die heute 30 bis 40 Jahre alt sind und eher zufällig von der Spermienspende erfahren haben. «Das ist oft ein Schock und ein enormer Vertrauensverlust», sagt der Bioethiker. Menschen, die heute um die 20 seien und öfters bewusst und früh aufgeklärt wurden, könnten es tendenziell besser in ihre Identität integrieren.
Fachgesellschaften und die nationale Ethikkommission empfehlen, früh und altersgerecht über die Spermienspende aufzuklären. «Es hat einen positiven Einfluss auf die Beziehung mit den Eltern, wenn es die Kinder wissen, bevor sie sieben sind», weiss Drewniak. Idealerweise sei es ein Prozess, bei dem immer wieder über das Thema gesprochen wird.
Die Suche
Nachdem Nora und Fabienne von der Spermienspende erfahren hatten, war ihnen sofort klar, dass sie ihren genetischen Vater suchen wollen. Klar war auch: «Wir suchten keine zweite Vaterfigur», betont Fabienne.
Doch die Suche nach dem genetischen Vater war gar nicht so leicht. Weil die Schwestern mit einer anonymen Spermienspende gezeugt wurden, rückte die Klinik keine Daten heraus. Schliesslich wurde dem Spender damals Anonymität versprochen. Ein Anwalt unterstütze die beiden Schwestern bei einem weiteren Anlauf.
Und tatsächlich: Nach rund zwei Jahren kam endlich ein Brief mit Namen und Adresse des genetischen Vaters. «Das war sehr emotional, weil wir es endlich geschafft hatten», erinnert sich Fabienne. Und Nora sagt: «Ich dachte sofort: Hoffentlich ist er noch nicht gestorben!»
Wenn gar nichts gekommen wäre, hätte es mich sehr getroffen.
Sie schrieben dem Spender einen Brief, legten Fotos bei. Kurze Zeit später kam seine Antwort. «Wir haben uns sehr darüber gefreut. Diesen schönen Brief werden wir immer aufbewahren», sagt Nora. «Wenn gar nichts gekommen wäre, hätte es mich sehr getroffen.»
Das Treffen
Die Töchter und der genetische Vater wollten sich treffen. Doch erst zwei Jahre später, nach der Pandemie, kam es diesen Frühling dazu: in einem Restaurant, irgendwo in der Westschweiz. Alle waren aufgeregt und gespannt. Es könnte auch schiefgehen.
Doch das Treffen verlief gut. «Wir haben viel geredet und wollten auch erfahren, warum er damals gespendet hat. Das ist uns aber noch nicht so klar geworden», erzählen die beiden Frauen.
Eine Frage der Identität
Überraschend ist, dass zwischenzeitlich nicht mehr viel passiert ist. «Das Wichtigste war, ihn kennenzulernen und persönlich zu sehen. Jetzt ist die Sache für mich beinahe erledigt», stellt Nora fest. Fabienne findet: «Der weisse Fleck in unserer Biografie hat Farben bekommen. Auch wenn es bloss die Gene sind, ist unsere Identität nun ausgefüllter.»
Für beide ist wichtig, dass sie bis hierher gemeinsam unterwegs waren. Vielleicht entwickelt sich die Beziehung zum Spender unterschiedlich weiter. «Ich würde ihn gerne wiedersehen», sagt Fabienne.
Nora ist etwas zurückhaltender: «Ich spürte direkt nach dem Treffen einen gewissen Druck, eine Beziehung aufbauen zu müssen. Nicht, dass er das gesagt oder sonst jemand von mir verlangt hätte. Aber das war mir da gerade zu viel.» Einen Kontaktabbruch kann sich Nora aber nicht vorstellen.
Man möchte ein Foto sehen und wissen, ob das ein guter Mensch ist.
Daniel Drewniak bestätigt, dass für viele die Suche und das Finden des Spenders wichtiger seien, als eine Beziehung mit ihm zu vertiefen: «Man möchte ein Foto sehen und wissen, ob das ein guter Mensch ist.»
Viel mehr passiere oft nicht. Drewniak sagt: «Was praktisch nie gesucht wird, ist ein Vaterersatz – erstaunlicherweise unabhängig davon, ob die Beziehung zum sozialen Vater gut oder schlecht ist.»