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Arbeitsdruck und Burnout Bei psychischen Krisen reagieren Vorgesetzte oft zu spät

Viele Beschäftigte in der Schweiz leiden unter chronischem Stress, der oft zur völligen Erschöpfung führt. «Burnout», so das gängige Schlagwort für diese Fälle. Die Realität ist komplexer, wie drei Schicksale zeigen.

Es erwischte Doris Brülhart auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie war Geschäftsführerin in einem internationalen Unternehmen im Gesundheitsbereich, als ihr Arbeitgeber sie mit einer ungeheuren anonymen Anschuldigung konfrontierte, die später entkräftet wurde: Sie habe Geld veruntreut. Der Verdacht traf sie im Innersten. Brülhart entwickelte Existenzängste. «Es war die Angst vor einem völligen Absturz in meinem Leben», sagt sie heute.

Doris Brülhart erholte sich zu diesem Zeitpunkt von einem schweren Unfall. Trotzdem kämpfte sie gegen die Vorwürfe an. Schliesslich lösten sich die Anschuldigungen in einer unternehmensinternen Untersuchung in Luft auf.

Brülhart blieb zwar Geschäftsführerin. Doch sie fühlte sich zutiefst verunsichert, im Handlungsspielraum eingeschränkt und ständig kontrolliert. Am Ende war sie so zermürbt, dass sie zur Behandlung ihres Burnouts in eine Klinik eintrat. Später verlor sie den Job.

Keine Krankheit, sondern ein Symptom

Chronischer Stress kann grosses Leiden verursachen. Oft wird dafür der Begriff Burnout verwendet, der so populär wie unpräzise ist. Denn Burnout ist keine Krankheit, sondern ein Symptom. Die Diagnose lautet in den meisten Fällen Depression oder, wie in Doris Brülharts Fall, Angststörung.

Frau stützt verzweifelt den Kopf in beide Hände
Legende: Hinter einem Burnout verbirgt sich oftmals die Diagnose Depression oder Angststörung. SRF / Simon Krebs

Der Basler Psychologe Niklas Baer kritisiert, der Begriff «Burnout» bagatellisiere psychische Probleme. Psychische Leiden seien kompliziert. «Ich habe zu viel gearbeitet», sei eine zu einfache Erklärung.

Mithilfe ihrer Familie hat Doris Brülhart inzwischen den Weg zurück ins Leben gefunden. Ihr Ehemann Stefan Jäschke Brülhart ist sich heute sicher, dass diese Krise von äusseren Umständen «getriggert» wurde: «Das hat in ihr etwas bedient, was offensichtlich schon angelegt war.»

Auch Tochter Lina sagt von ihrer Mutter, sie sei enorm «gschaffig» und pflichtbewusst. Sie wolle ihre Aufgaben erfüllen und setze sie sich damit unter Druck. «Wenn nun auch noch Druck von aussen kommt, dann ist es zu viel. Dann bricht sie zusammen.»

Die meisten psychisch Kranken arbeiten.
Autor: Niklas Baer Psychologe

Studien zeigen, dass jeder fünfte Beschäftigte in der Schweiz unter einer psychischen Krankheit leidet. «Das heisst, die meisten psychisch Kranken arbeiten, und sie arbeiten häufig gut», erklärt Psychologe Baer.

Die Frage sei, wie ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin mit der Krankheit umgehe. Wer aus der psychischen Krise finde, sollte beruflich nicht abgeschrieben werden: «Im Gegenteil – wer lernt, produktiv damit umzugehen, qualifiziert sich für eine Karriere.»

Mann sitzt verzweifelt zwischen Büchernstapeln
Legende: Ein Burnout entsteht meist nicht aus dem Nichts, sondern bahnt sich über einen längeren Zeitraum an. SRF / Simon Krebs

Niklas Baer ist Gründer von «Workmed», einem Kompetenzzentrum der Psychiatrie Baselland. Dessen Ziel ist es, psychisch bedingte Arbeitsprobleme zu verstehen und zusammen mit Betroffenen, Arbeitgebern und Versicherungen Lösungen zu finden. Die Gründe für psychische Krisen seien so unterschiedlich wie die Geschichten der Betroffenen, so Baer: «In vielen Fällen ist ein Burnout eine Krise, die sich über längere Zeit angebahnt hat.»

Kontrollverlust unter Stress

Zu den Klienten von «Workmed» gehört auch Daniel U. Er ist auf Stellensuche und möchte seinen Namen deshalb nicht preisgeben. Der Metallarbeiter erlitt 2020 ein Burnout. Am Anfang der Krise stand die Kritik des Arbeitgebers. Er warf Daniel U. vor, unfreundlich zu sein, unflätig gar.  

Der Vorwurf setzte dem 46-Jährigen zu, er verlor stark an Gewicht und litt unter Schlafstörungen. «Ich schlief noch ein bis zwei Stunden pro Nacht und begann, an mir zu zweifeln. Ich konnte nicht mehr mit mir umgehen», sagt U. Seine Partnerin brachte ihn schliesslich dazu, Hilfe anzunehmen.

Mann liegt in Embryonalstellung schlaflos auf einer Matratze
Legende: Chronischer Stress kann auch zu Schlafstörungen führen. SRF / Simon Krebs

Bei «Workmed» besucht Daniel U. eine ambulante Therapie, die auf sein Verhalten im Arbeitsumfeld fokussiert. U. weiss, dass er sich bei der Arbeit in Stresssituationen zuweilen nicht unter Kontrolle hat: «Dann brauche ich schon mal ein Wort, dass ich hier nicht wiederholen möchte.»

Die «sehr direkte Kommunikation», wie Daniel U. das nennt, hat ihm im Arbeitsleben immer wieder Probleme bereitet. In Rollenspielen mit der Therapeutin übt U. Zurückhaltung und konstruktive Kommunikation.

«Ich muss mich gebraucht fühlen»

U. möchte möglichst rasch wieder arbeiten. Er wolle einfach etwas machen, sagt er, einen Ablauf haben: «Ich muss mich gebraucht fühlen. Das ist für mich im Leben entscheidend.»

Auch Niklas Baer streicht den Wert der Arbeit bei psychischen Schwierigkeiten heraus. Sie sei ein stabilisierender Faktor. «Die allermeisten Menschen wollen arbeiten. Arbeit gibt ihnen Struktur, sie fühlen sich aktiv, kompetent und haben Kontakte zu anderen.» Deshalb sei die Früherkennung von psychischen Problemen am Arbeitsplatz wichtig. 

Mann auf Sofa spricht mit Frau mit Brille
Legende: Betroffene sollten das Gespräch mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten suchen, bevor die Erschöpfung zu gross ist. SRF / Simon Krebs

Ist die Erschöpfung der Betroffenen noch nicht total, versucht Workmed zu vermitteln. Im Gespräch mit Arbeitnehmerinnen und Vorgesetzten werden Lösungen bei Konflikten und Überforderung gesucht. Es sei zentral, nicht nur mit den Betroffenen neue Bewältigungsstrategien einzuüben, sondern auch die Vorgesetzten zu unterstützen. Dies schafft Zeit, den Arbeitsproblemen auf den Grund zu gehen, statt die Betroffenen nur zu pathologisieren.

Vorgesetzte oft zu zögerlich

Baer stellt fest, dass die Verantwortlichen in den Unternehmen vielfach zu spät eingreifen. «Die Vorgesetzten haben Hemmungen und warten ab. Sie wollen dem Mitarbeiter nicht zu nahetreten, fürchten vielleicht auch eine heftige Reaktion.» Bei Vorgesetzten sowie Kolleginnen und Kollegen fehle oft das Wissen, wie mit psychischen Problemen umzugehen sei.

Der Psychologe empfiehlt, auf zwischenmenschliche Spannungen und kleine Veränderungen im Verhalten von Mitarbeitenden zu achten. Oft handle es sich um erste Anzeichen einer Krise. Bis sich die Probleme auf die Leistung niederschlagen, vergehe viel Zeit.

Häufig lange Ausfälle

Wird die Chance einer frühen Intervention verpasst, kommt es oft zu Konflikten, die rasch eskalieren und die Betroffenen stark belasten. Die Absenz bei psychischen Problemen dauert im Schnitt sechs Monate, viel länger als bei den meisten andern Krankheiten.

Frau streift durch Wald und rauft sich die Haare
Legende: Wenn von psychischen Erkrankungen Betroffene nicht früh genug Hilfe bekommen, fällt die Rückkehr in den Alltag oft schwer. SRF / Simon Krebs

Je länger Betroffene dem Arbeitsleben fernbleiben, desto schwerer fällt eine Rückkehr, stellt Baer fest. «Es ist eine grosse Gefahr, dass ein Teil der Menschen nach einem Burnout in eine therapeutische Parallelwelt gerät – immer weiter weg vom Arbeitsmarkt.»

Die Perfektionismusfalle

Als Eray Cansev seine Stelle Ende 2019 kündigte, war er am Ende seiner Kräfte. Den Arbeitgeber informierte er nie über seine psychischen Beschwerden. Der damals 29-Jährige hatte nach einem Studium der Elektrotechnik als Berufsschullehrer gearbeitet. Umstrukturierungen am Arbeitsplatz belasteten ihn schwer. Zur gleichen Zeit kam sein erstes Kind zur Welt. «Vater zu werden ist wunderschön. Aber mir fehlten die Erholungsphasen», sagt er.

Mann spielt Gitarre
Legende: Ein Mangel an Freizeit und Erholung ist ein Risikofaktor für ein Burnout. SRF / Simon Krebs

Der angestaute Stress entlädt sich eines Abends zu Hause. Der heftige Ausbruch erschreckt seine Frau so sehr, dass sie die gemeinsame Wohnung mit dem Baby verlässt. Cansev bleibt allein zurück. «Das war der Moment, in dem ich erkannte, dass ich Hilfe brauchte», sagt er heute.

Medikamente, stationärer Aufenthalt in einer Klinik, neurologische Untersuchungen, ambulante Therapie – nichts konnte ihm seither nachhaltig helfen. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt am Meer fühlt er sich zwar besser, und beginnt in kleinen Pensen wieder als Lehrer zu arbeiten. Dann werden die psychischen Probleme wieder übermächtig. Depressionen, bipolare Störung, Zwangshandlungen – immer neue Diagnosen tauchen auf.

Die Rückkehr ins Berufsleben steht noch immer aus. Von seiner Familie lebt Cansev getrennt. Trotzdem gibt er nicht auf. Er wolle zur Ruhe kommen, sagt er: «Ich habe gemerkt, dass es nicht immer der Grossartigste und Interessanteste sein muss – ich kann auch lernen, ein ‹normales› Leben zu führen. Ein Leben, das nicht immer perfekt ist.»

Der lange Weg zurück

Doris Brülhart dagegen hat sich inzwischen selbstständig gemacht. Sie produziert Pflegeprodukte. Ende des letzten Jahres, drei Jahre nach ihrem Zusammenbruch, konnte sie am Flughafen Zürich ein eigenes Geschäft eröffnen. Dort bietet sie auch Massagen und kosmetische Behandlungen an.

Die Pandemie hat ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Doch Brülhart hielt dieser Belastung stand. Sie kenne sich heute besser und sei sich ihrer eigenen Tatkraft bewusster: «Sobald Ohnmachtsgefühle aufkommen, analysiere ich sie viel besser und gehe ihnen auf den Grund.» Noch immer lässt sie sich therapeutisch begleiten.

«Offenheit ist das Wichtigste»

Obwohl Daniel U. es sich sehnlich wünscht, konnte er bis heute keine neue Stelle finden. Bald droht ihm der Gang aufs Sozialamt, den er unbedingt vermeiden will. Die persönliche Krise jedoch hat er hinter sich gelassen. Er habe gelernt, dass Offenheit im Umgang mit dem Burnout das Wichtigste sei: «Man muss offen und ehrlich sein mit sich selbst, aber auch dem Umfeld gegenüber.»

Auch der Psychologe Niklas Baer wünscht sich in eine breite und tabufreie Diskussion. Ihm geht es darum, dass alle Beteiligten lernen, mit psychischen Beschwerden umzugehen und diese auch zu benennen – so wie es bei körperlichen Krankheiten selbstverständlich ist.

SRF 1, DOK, 27.01.2021, 20:05

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