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Vian Tobal: «Wir lebten am Existenzminimum»
Aus Kontext vom 13.02.2024. Bild: SRF / Matthias Willi
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Armut in der reichen Schweiz Seit sie 13 ist, kämpft sie gegen die Armut

Die Familie von Vian Tobal lebt seit Jahren mit Geldsorgen. Also arbeitet Vian schon als Teenagerin neben der Schule. Der Weg aus der Armut ist steinig.

Vian Tobal lernt früh, dass das Leben kostet. In der Primarschule ist sie die Einzige, die kein Instrument spielt, nicht in die Skiferien geht. Als Vian ihre Mutter fragt, ob sie ihr ein Spielzeug kaufe, meint die Mutter, sie hätten nicht mal Geld für ein Trambillett.

Wir lebten am Existenzminimum.
Autor: Vian Tobal Wuchs in Armut auf

Vians Familie flüchtet 2009 aus Syrien in die Schweiz. Das Asylverfahren dauerte damals noch drei Jahre. Während des Verfahrens ist es den Eltern verboten zu arbeiten. Die Familie bekommt Sozialhilfe.

Eine junge Frau mit langen braunen Haaren steht vor einer Wand mit kleinen roten Kacheln und lächelt.
Legende: Vian Tobal ist heute 21 und macht eine Banklehre. Sie war sechs Jahre alt, als ihre Familie aus Syrien floh. SRF / Matthias Willi

Bald aber beginnt der Vater in einer Pizzeria zu arbeiten. Im Stundenlohn und ohne Arbeitsbewilligung. «Sein Chef hat das ausgenutzt und ihm einen Hungerlohn bezahlt. Wir lebten am absoluten Existenzminimum. Das Essen bezogen wir von der Tafel», so Vian.

Ein Moment, der alles ändert

Zum Znüni nimmt Vian immer wieder Pizza mit, die der Vater mit nach Hause bringt. Ihrer Lehrerin fällt das auf. Sie lädt zum Elterngespräch: Pizza sei kein gesundes Znüni und nicht mehr erlaubt. «Mir war das so unangenehm. Meine Lehrerin konnte ja nicht wissen, dass unser Kühlschrank häufig leer war.»

Es ist der Moment als Vian beschliesst, selber Geld zu verdienen. Sie ist 13 Jahre alt.

Sie hilft einer älteren Dame im Haushalt, bekommt 20 Franken pro Woche. Damit kauft Vian das Znüni für sich und ihren Bruder, oder mal ein Spielzeug. Den Eltern sagt sie, sie hätte das Geld von der Schule oder einer Stiftung bekommen.

Und die Eltern glaubten das? «Ich hatte schnell einen Wissensvorsprung. Meine Eltern konnten jahrelang kein Deutsch, kannten das System in der Schweiz nicht.»

Ich war eigentlich noch ein Kind, hatte aber den Stress einer Erwachsenen.
Autor: Vian Tobal Wuchs in Armut auf

Vian dagegen rutscht in die Erwachsenenrolle. Daheim übernimmt sie bald die ganze Administration. «Ich hatte schnell das Gefühl, dass ich für meine Eltern zuständig bin. Ich musste lernen, was eine AHV-Nummer ist oder wie man die Steuererklärung ausfüllt.»

An einem Esstisch sitzen mehrere Personen, im Bild eine junge Frau und eine Frau mittleren Alters.
Legende: «Meine Eltern und ich standen auf Kriegsfuss», erinnert sich Vian Tobal an die schwere Zeit der Existenzangst. SRF / Matthias Willi

Rückblickend erzählt Vian, dass das eine totale Überforderung gewesen sei. «Ich war eigentlich noch ein Kind, hatte aber den Stress einer Erwachsenen.»

Gleichzeitig will sie ihren Eltern helfen. «Da war eine gewisse Erwartungshaltung: Sie haben für mich das Land, den Kontinent gewechselt, damit es mir einmal besser geht. Aber als Kind versteht man das nicht.»

Die Situation zu Hause ist angespannt. «Ich war häufig einfach wütend auf meine Eltern. Armut bedeutet Existenzangst und puren Stress.»

Als würde ich im Ozean schwimmen und versuchen, nicht zu ertrinken.
Autor: Vian Tobal Wuchs in Armut auf

Vians Eltern mussten damals beide die Schule nach wenigen Jahren abbrechen, um zu arbeiten und ihre Familien zu unterstützen. Sie kannten es also nicht anders. Vian betont aber, das habe nichts mit der Herkunft an sich zu tun. «Es ist schlicht wirtschaftliche Notwendigkeit.»

Über Wasser bleiben: ein Balanceakt

Vian beschreibt ihr Grundgefühl in der Jugend mit einem Bild: «Als würde ich im Ozean schwimmen und versuchen, nicht zu ertrinken. Aber nicht nur ich, sondern meine ganze Familie. Ich versuche, für sie zu schwimmen.»

Zu der finanziellen Lage kommen gesundheitliche Probleme. Vian hat eine beidseitige Hüftdysplasie, eine Fehlbildung des Hüftgelenks, und benötigt mehrere Operationen.

Ein junges Mädchen liegt in einem Spitalbett und hält einen Teddybär im Arm.
Legende: Einfach Kind sein, Ruhe haben und fürsorgliche Eltern. Wenn das nur während eines Klinikaufenthalts wirklich möglich ist, dann stimmt etwas nicht. Vian Tobal

Paradoxerweise freute sie sich – trotz der Schmerzen – jeweils auf die Zeit im Spital. «Ich konnte mich ausruhen und meine Eltern durften einfach Eltern sein und sich um mich kümmern.»

Vians Eltern arbeiten jahrelang in schlecht bezahlten Hilfsjobs: in der Reinigung, Backstube oder Wäscherei. Vian versucht also weiterhin Geld mitzuverdienen. Sie ist nun 15 Jahre alt.

Sie hilft im Tierheim aus, sammelt Unterschriften für Referenden. «Immer wenn ich 200 Franken angespart hatte, gab ich das Geld meinen Eltern.» Oder sie kauft Zugtickets für Ausflüge und Eintritte in die Badi für die ganze Familie.

700 Franken für eine Schulreise «Ich war geschockt» 

Vian ist gut in der Schule und ehrgeizig. Sie will es unbedingt ans Gymnasium schaffen, auch ihre Eltern machen Druck.

Mit all den Belastungen fällt es ihr aber zunehmend schwer, ihren Schnitt zu halten. «Ich hatte damals einen Freund aus gutem Haus. Dieser bot mir Ritalin an. Das half.» Vian lernt nachts. «In der Schule hatte ich bald den Ruf einer Eule.» Die Ritalingeschichte fliegt auf, aber Vian schafft den Sprung ans Gymnasium.

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Aus Sternstunde Religion vom 04.02.2024.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 57 Minuten 41 Sekunden.

Die obligatorische Schule ist grundsätzlich gratis. Am Gymnasium kommen aber andere Kosten auf Vian zu. «Am ersten Tag hat die Lehrerin gesagt, dass unsere Bildungsreise 700 Franken kostet. Ich war total geschockt.» Während die Lehrerin spricht, kann Vian nur daran denken, wie sie dieses Geld zusammenbekommen soll.

Dazu kommen Kosten für Bücher und Laptop. Vian wendet sich ans kantonale Amt für Ausbildungsbeiträge. Ein aufwendiger Prozess: Sie muss eine ganze Reihe an Dokumenten einreichen, um zu beweisen, dass die Familie kein Geld hat.

Der Gang zum Bancomat

Nach vier Monaten bekommt sie einen Unterstützungsbeitrag. Der ist aber nur punktuell und Vian hat noch Schulden von den vielen Spitalaufenthalten.

Also beginnt sie, bei Burger King zu arbeiten. Vian ist jetzt 18 Jahre alt. Bald arbeitet sie praktisch jeden Tag nach der Schule, auch am Wochenende.

Eine junge Frau mit braunen Haaren steht vor einem Bach und Sträuchern.
Legende: Tagsüber arbeitete sie bei einer Fast-Food-Kette, nachts lernte sie für die Schule. Bis alles zu viel wurde. SRF / Matthias Willi

An ihren ersten Lohn erinnert sie sich gut: «Ich stand vor dem Bankautomaten und sah meinen Kontostand. 3000 Franken.» Wie ein Drogenrausch hätte es sich angefühlt. Vian kauft sich Kopfhörer. Mit dem Rest des Geldes übernimmt sie die Krankenkassenprämien der Familie.

«Doppelschichten» als Jugendliche 

In der Schweiz arbeitet jeder fünfte Jugendliche neben der Schule im Durchschnitt 15 Stunden pro Woche, Lehrlinge sind aus der Statistik ausgenommen. Es gibt aber keine Zahlen dazu, wie viele Jugendliche neben der Schule arbeiten, um ihre Eltern finanziell zu unterstützen. So wie Vian.

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Bild: Shutterstock/Mantikorra abspielen. Laufzeit 1 Minute 19 Sekunden.

Yann Bochsler ist Armutsforscher an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er vermutet, dass das häufig vorkomme: «In der Schweiz gilt man ab 15 als potenziell erwerbstätig. Wir wissen, dass Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien generell viel Verantwortung übernehmen.» Man könne also davon ausgehen, dass viele von ihnen auch finanzielle Verantwortung tragen.

Wenn an der Kasse wenig lief, habe ich Karteikärtchen gelernt.
Autor: Vian Tobal Wuchs in Armut auf

So wie Vian. Im Gymnasium leistet sie praktisch Doppelschichten: Schule bis 17 Uhr. Danach die Schicht bei Burger King, bis das Restaurant schliesst.

Armut in der Schweiz – alles andere als ein Randphänomen

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In der Schweiz gelten 8.7 Prozent der Bevölkerung als arm. Das sind 745'000 Personen. Darunter sind besonders viele Familien und Alleinerziehende.

Hinzu kommen 1.25 Millionen Menschen, die als armutsgefährdet gelten. Sie leben knapp über der Armutsgrenze. Für eine Einzelperson liegt die Armutsschwelle bei 2290 Franken pro Monat, für eine vierköpfige Familie bei 3980 Franken pro Monat. Damit müssen alle Ausgaben gedeckt werden. Miete, Krankenkasse, Mobilität, Essen, Kleider etc.

Die Armutsquote steigt in der Schweiz seit Jahren. Im Jahr 2015 lag sie bei 6.7 Prozent. Die neusten Zahlen sind aus dem Jahr 2021. Bei Organisationen wie der Caritas ist man sich sicher, dass die Quote in der Zwischenzeit noch weiter gestiegen ist.

Die Caritas berichtet von 30 bis 40 Prozent mehr Menschen, die in den Caritas-Läden einkaufen oder zur Schuldenberatung kommen. Gründe dafür sind die gestiegenen Lebenshaltungskosten, teurere Mieten und Krankenkassenprämien.

«Die Bücher, die ich für die Schule lesen musste, habe ich mir als Hörbücher heruntergeladen. Wenn an der Kasse wenig lief, habe ich Karteikärtchen gelernt.» So hält sich Vian in der Schule über Wasser.

«Der Stoff war eigentlich nicht das Problem.» Die Erschöpfung schon. Eineinhalb Jahre hält sie durch, aber ihre Noten werden schlechter und schlechter, Vian müder und müder. Manchmal schläft sie im Unterricht ein. Sie fehlt häufig wegen Krankheit.

Irgendwann wird alles zu viel 

Dann steht ein Chemietest an. Vian weiss, dass diese Note entscheidend ist. Also fragt sie ihre Lehrerin, ob es möglich sei, den Test, der für 14 Uhr geplant ist, erst um 17 Uhr, also nach der Schule, schreiben zu können – sie sei völlig erschöpft. «Die Lehrerin meinte, das sei grundsätzlich möglich. Aber sie fahre ihren Laptop um 16:30 Uhr runter und danach habe sie wirklich keine Lust mehr, diesen wieder hochzufahren.» 

Vian sagt, sie verstehe, dass die Lehrerin ihre Bitte abgelehnt habe. «Aber diese Bemerkung war eine zu viel.»

Sind sich die Schulen der Thematik bewusst?

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Schulen können das strukturelle und politische Problem der Armut nur bedingt auffangen.

Vian Tobal sagt, dass sie in der Sekundarschule einmal zum Schulpsychologen geschickt wird. Sie erzählt ihm von der Situation zu Hause. «Er meinte nur, in der Pubertät sei es normal, mit den Eltern zu streiten. Er hat nicht verstanden, dass meine Probleme vor allem finanzielle Gründe hatten.» Er habe die Armut nicht erkannt oder nicht erkennen wollen.

Thomas Oetiker, Rektor der Sekundarschule Binningen, hält es für wichtig, an der Schule über Armut zu sprechen. «Die grösste Herausforderung ist die offene Kommunikation. Oft schämen sich die Betroffenen», bemerkt er.

Die Schulsozialarbeit bietet ein niederschwelliges Beratungsangebot und offene Türen. Viele Schulen haben zusätzliche Angebote für ausgeglichenere Bildungschancen eingeführt, zum Beispiel im Bereich Berufsintegration.

Vian geht wortlos. Sie wendet sich ans Rektorat und bittet darum, das Gymnasium abzubrechen. Sie zieht die Reissleine – und holt sich psychologische Hilfe. Danach arbeitet sie noch drei Monate weiter bei Burger King. Nach einer Reise entscheidet sie, eine Banklehre zu beginnen.

Unsere finanzielle Situation bleibt knapp. Aber heute kommen wir als Familie über die Runden.
Autor: Vian Tobal Wuchs in Armut auf

Mit 21 ist sie nun im ersten Lehrjahr. Sie wohnt noch bei ihren Eltern. Mit ihrem ersten Lehrlingslohn lädt Vian die ganze Familie nach Portugal in die Ferien ein. Ihre Eltern hätten es auch verdient, sich mal auszuruhen, einfach mal zu geniessen.

Eine junge Frau steht mit ihren Eltern und ihrem Bruder an einem Strand bei Sonnenuntergang und macht ein Selfie.
Legende: Portugal sei genau das Richtige für den Familienurlaub gewesen, sagt Vian Tobal: «Meine Mutter liebt quirlige Städte, mein Vater die Natur.» Vian Tobal

Dass Vian ihren Eltern diese Ferien ermöglichen konnte, sei für sie pure Lebensfreude. Langsam bekommt Vian wieder Boden unter den Füssen, Luft zum Atmen.

Meine Geschichte zeigt, dass man es irgendwie schaffen kann. Aber das gelingt nur wenigen.
Autor: Vian Tobal

«Unsere finanzielle Situation bleibt knapp. Aber heute kommen wir als Familie über die Runden.» Sie könnten leben, nicht nur überleben. 

Eine junge Frau mit braunem Mantel spielt auf einem Rasen mit einem Hund mit weissem Fell.
Legende: Heute ist wieder Ruhe in Vians Leben eingekehrt: Bei Spaziergängen mit Familienhund Rocky kann sie abschalten. SRF / Matthias Willi

Trotzdem: ein so «harmonisches» Ende wird Vian und dem Thema Armut nicht gerecht.

«Ja, meine Geschichte zeigt, dass man es irgendwie schaffen kann. Aber das gelingt nur wenigen. So viel Potenzial von Jugendlichen geht einfach verloren. Weil sie überarbeitet sind, weil sie psychisch an der Armut kaputtgehen.»

Vian wünscht sich, dass besser hingeschaut wird. «Es kann einfach nicht sein, dass Jugendliche aus finanziell schwächeren Haushalten so viel tragen müssen.»

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 13.02.2024, 9:05 Uhr

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