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Armut und Sozialhilfe «Unser Sozialsystem ist gut, aber es weist eklatante Löcher auf»

750’000 Menschen in der Schweiz gelten als arm – Tendenz steigend. Das geht aus den Angaben des Bundesamts für Statistik (BFS) hervor. Noch viel mehr sind armutsgefährdet, nämlich 1'244’000 Menschen. Wieso ist das so? Wo kommt der Schweizer Sozialstaat an seine Grenzen und wer fällt durch die Maschen des Systems? Wir haben nachgefragt: bei Raphael Golta, Sozialvorsteher der Stadt Zürich.

Raphael Golta

Sozialvorsteher der Stadt Zürich

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Raphael Golta (SP) wurde 2014 in den Zürcher Stadtrat gewählt und ist seither Vorsteher des Sozialdepartements.

SRF: Regelmässig wird man auf der Strasse von Menschen um Kleingeld gebeten. Geben Sie ihnen Geld? 

Raphael Golta: In aller Regel nicht, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Grundsätzlich sollen Menschen dorthin, wo sie Unterstützung erhalten – nicht bloss einen Fünfliber. Die Notschlafstelle kostet in der Stadt Zürich seit Corona nichts mehr. 

Wieso sind selbst in der reichen Schweiz so viele Menschen armutsbetroffen?

Unser Land verfügt über einen grossen Wohlstand, der auch viele Menschen erreicht. Zugleich sind wir aber eine Hochleistungsgesellschaft, die viel abverlangt und sehr selektiv ist. 

Ein Schicksalsschlag kann eine Abwärtsspirale auslösen.

Einerseits bringen schlechte Startbedingungen tiefe Einkommen mit sich. Andererseits kann ein Schicksalsschlag eine Abwärtsspirale auslösen. Aus Einkommensverlust wird Wohnungsverlust, aus diesem wiederum entstehen psychische Probleme etc.

Das klingt, als könnte es jede und jeden treffen. Dabei haben wir doch ein gutes Sozialsystem?

Menschen aus prekären Verhältnissen, mit Migrationshintergrund oder mit kleinem Bildungsrucksack landen natürlich eher in der Sozialhilfe.

Gewisse Menschen werden regelrecht in die Armut getrieben.

Den Banker kann es aber auch treffen. Unser Sozialsystem ist recht gut ausgebaut, aber es weist auch eklatante Löcher auf. Einige wurden aus politischen Gründen bewusst «reingeschnitten». Ein Beispiel ist das Migrationsrecht, das den Sozialhilfebezug mit dem Verlust des Aufenthaltsstatus sanktionieren kann. Gewisse Menschen werden damit regelrecht in die Armut getrieben.

Welche anderen Lücken gibt es im Sozialsystem?

Wir stellen fest, dass es Menschen gibt, die staatlichen Institutionen gegenüber grundsätzlich skeptisch sind oder die wir mit unseren Mitteln nicht erreichen. Das können teils randständige Menschen sein, Drogenabhängige oder solche ohne festen Wohnsitz. 

Mit den 1000 Franken Sozialhilfe kann man keine grossen Sprünge machen.

Aber auch Migranten, die – zurecht oder nicht – Angst davor haben, dass der Staat sie ausweist. Diese Menschen erreichen wir nicht ausreichend und sie lassen sich zu wenig helfen. In solchen Fällen spielen zivilstaatliche oder kirchliche Institutionen eine wichtige Rolle, da sie niederschwelliger funktionieren.

Wie hoch ist die Sozialhilfe?

In der Sozialhilfe erhält eine Einzelperson neben der Unterbringung und der Gesundheitsversorgung circa 1000 Franken pro Monat, bei der Asylfürsorge sind es etwa 30 Prozent weniger. Mit diesem Geld kann man keine grossen Sprünge machen. Es ist verständlich, dass diese Menschen auch für Lebensmittelpakete anstehen.

Was tut die Stadt Zürich konkret gegen Armut?

Nebst den klassischen Mitteln wie Sozialhilfe, AHV/IV und Ergänzungsleistungen werden beispielsweise auch Ausbildungen finanziert. Bald soll ein kommunaler Mindestlohn hinzukommen. Zentral ist auch die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Institutionen, um gemeinsam die angesprochenen Lücken zu schliessen.

Durch die sichtbare Armut der Coronazeit bemerkten wir verstärkt, dass Menschen teils keinen Zugang zu unseren Angeboten haben. Seither arbeiten wir noch mehr mit diesen Organisationen zusammen.

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 13.02.2024, 9:05 Uhr

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