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Ausgelastete Intensivstationen «Die Triage ist ein Dilemma, aber keine Diskriminierung»

Die Intensivstationen sind momentan zu über 80 Prozent ausgelastet. Rund 35 Prozent sind Covid-Patienten. Mit der zunehmenden Knappheit von Spitalbetten wächst wieder die Bedeutung der Triage.

Wie soll man die begrenzten Ressourcen gerecht verteilen? Fünf Fragen an Hans Pargger, Chef der Intensivmedizin am Unispital Basel.

Hans Pargger

Chefarzt Intensivmedizin

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Hans Pargger ist Chefarzt und Leiter der Intensivstation des Universitätsspitals Basel. Zudem ist er Mitglied der Expertengruppe «Clinical Care» der Swiss National Covid-19 Science Taskforce.

SRF: Das wichtigste Kriterium der Triage-Richtlinien ist die Überlebenswahrscheinlichkeit. Damit bevorzugt die Triage diejenigen Patienten, die robuster sind. Ist das gerecht?

Hans Pargger: Ohne Frage ist Triage im Hinblick auf Leben, Überleben oder Sterben etwas Schlechtes. Das wollen wir nicht, aber in gewissen Situationen muss man es machen. Nun kann man viel darüber diskutieren, welche Methode man wählt, um die Auswahl zu treffen.

Da gibt es unterschiedliche Ideen. Es gibt Leute, die sagen, am gerechtesten sei das Auslosen oder das Prinzip «first come, first serve». Andere Ideen sind eine kompliziertere Lösung, bei der man individuellere Entscheidungen ermöglicht, so wie es die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) macht.

Die Triage-Richtlinien der SAMW

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Die schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften hat bereits in der ersten Welle der Corona-Pandemie Triage-Richtlinien erlassen für die Intensivmedizin «bei ausserordentlicher Ressourcenknappheit».

Das zentrale Kriterium dieser Richtlinien ist die «Überlebensprognose»: Behandelt wird diejenige Person, die die grösste Chance hat zu überleben. Dabei orientieren sich die Ärztinnen und Ärzte an einem Punktesystem: Je kränker oder verletzter eine Patientin, desto mehr Negativpunkte – und desto kleiner die Chance auf ein IPS-Bett.

Das Wichtigste ist, dass wir hierzulande eine einzige Methode verwenden. Auf diese Methode, die auf die Überlebensprognose eines Patienten fokussiert, haben sich die Fachleute schweizweit und über viele Disziplinen hinweg geeinigt, deshalb ist diese Methode auch gut und gerecht für die Bevölkerung.

Widerspricht das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit nicht anderen Prinzipien wie dem Behindertengleichstellungsgesetz oder der Bundesverfassung, wonach alle Menschen gleich sind?

Bei der Triage geht es darum, Ressourcen zuzuteilen, die endlich sind. Die Bundesverfassung geht nicht von unendlichen Ressourcen aus.

Die Intensivstationen hatten nie vor, nur noch Betten für Covid-Patienten zu haben.

Die Menschen, welche unter die Triage fallen, werden gleich behandelt. Sie haben einfach unterschiedliche Prognosen. Die Bundesverfassung sagt nicht, dass bei unterschiedlichen Prognosen alle gleich behandelt werden müssen. Sie sagt nur: Wendet bei allen das gleiche Prinzip an, und das tun wir.

Gibt es eine Triage-Gerechtigkeit, die niemanden diskriminiert? Sind Entscheidungen über Leben und Tod nicht unweigerlich mit einem Dilemma verbunden?

Natürlich ist es am Schluss ein Dilemma: Eine Person stirbt wahrscheinlich, die andere überlebt. Das hat aber mit Diskriminierung nichts zu tun. Diskriminierung heisst, dass man jemandem etwas verwehrt, das er oder sie eigentlich zugute hätte.

Ich sehe auch nicht, weshalb die Triage die Behinderten benachteiligen sollte. Die unmittelbare Prognose eines behinderten Patienten, der an Covid-19 erkrankt ist oder einen Unfall hat, ist abhängig von der Situation, in der er sich im Moment befindet. Die Behinderung jedoch hat auf die unmittelbare Prognose in den wenigsten Fällen einen Einfluss.

Fachleute befürchten, dass Nicht-Covid-Patienten auf der Intensivstation das Nachsehen haben könnten, weil ihre Befunde weniger dringlich erscheinen als die Atemnot von Covid-Erkrankten. Bei Krebskranken etwa könnten Metastasen die Aussichten verschlechtern, wenn man Eingriffe verschiebt.

Patienten mit Tumoren dürfen nicht benachteiligt werden, «nur» weil die Intensivstation voll ist mit Covid-Patienten. Auch die Triage-Richtlinien der SAMW halten dies fest.

In solchen Fällen sind die Intensivmediziner angewiesen auf die Onkologinnen und Onkologen, die verlässliche Angaben machen, wie lange sich eine Operation ohne Verschlechterung hinausschieben lässt.

Der Impfstatus spielt keine Rolle für die Behandlung des Patienten.

Die Intensivstationen hatten nie vor, nur noch Betten für Covid-Patienten zu haben. Wir werden den notwendigen Teil der Betten für andere Patientinnen reservieren, unter anderem für Krebspatienten, die einen Eingriff benötigen.

Der Impfstatus darf gemäss SAMW-Richtlinien keine Rolle spielen. Trotzdem: Verspüren Sie nicht manchmal Wut auf Ungeimpfte?

Ich kann nicht ausschliessen, dass wir als Gesamt-Intensivteam in Erschöpfungsphasen, die vielleicht bevorstehen, auch negative Gefühle empfinden für Menschen, die das mitverursacht haben, indem sie gesagt haben: «Ich lasse mich aber nicht impfen.» Das lässt sich nicht verhindern.

Aber es gibt ganz verschiedene Personengruppen, die sich selbst oder andere schädigen – Gewalttäter zum Beispiel, oder Leute, die fahrlässige Verkehrsunfälle verursachen und selber schwer verletzt überleben: So jemand wird bei uns genau gleich behandelt wie das schwer verletzte Opfer.

Auch bei Covid-19 ist klar, dass der Impfstatus für die Behandlung des Patienten keine Rolle spielt.

Das Gespräch führte Irène Dietschi.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Talk, 15.12.2021, 09:03 ; 

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