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Ausstellung «Fremdplatziert» «Zwangsversorgt» heisst oft «lebenslänglich»

Hunderttausende von Kindern wurden ihren Eltern in der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts weggenommen und auf Bauernhöfen, in Pflegefamilien oder Heimen platziert. Im Landesmuseum Zürich erzählen Betroffene, wie sie ihre Zwangsversorgung erlebt haben.

«Ich habe die ganze Zeit geschwiegen. Ausser meiner Frau und meinen Söhnen wusste niemand davon», sagt Sergio. Als uneheliches Kind wurde er gleich nach der Geburt – er war gerade mal zehn Tage alt – im Erziehungsheim der «Stiftung Gott hilft» im Tessiner Dorf Pura «versorgt». Dort verbrachte er die ersten elf Jahre seines Lebens. Einen Vormund, der sich für seine Rechte hätte einsetzen sollen, sah er nur einmal.

Kinder arbeiten auf dem Feld, alte Frau steht dabei.
Legende: Zizers GR, um 1920 Harte Arbeit, wenig Schutz: Kinder des Kinderheims «Gott hilft» auf einem Kartoffelfeld. Vielen Heimen waren landwirtschaftliche Betriebe angeschlossen, in denen Kinder hart arbeiten mussten. Oft erhielten sie keine angemessene Schulbildung. Schweizerisches Nationalmuseum/Stiftung «Gott Hilft», Zizers

Sergio arbeitete später selbst in einem Heim. Der mittlerweile pensionierte Mann erinnert sich, dass sich keiner seiner Arbeitskollegen für seine Geschichte interessiert habe. Auch dann nicht, als er über die Geschichte seiner Fremdplatzierung ein Buch veröffentlichte: «Da kam einfach nichts. Das hat mich wahnsinnig beschäftigt.»

«Der Bub kostet»

Der älteste Zeitzeuge, der sich in der Videoinstallation im Landesmuseum Zürich äussert, ist der 97-jährige Armin. Er kommt 1927 als uneheliches Kind zur Welt. Seine Mutter muss ihn weggeben. Zunächst wächst er in einer Pflegefamilie auf. Als die Behörden darüber streiten, wer seine Hose und sein Hemd bezahlen soll, heisst es: «Der Bub kostet.»

Aus finanziellen Gründen kommt er mit sieben Jahren ins Erziehungsheim Sonnenberg bei Luzern. In seiner ersten Nacht erlebt er, dass Bettnässer aus dem Schlaf gerissen und bestraft werden. Sie müssen den Rest der Nacht stehend neben dem Bett verbringen.

Auch Alain erlebt viel Gewalt. Körperliche Misshandlungen sind an der Tagesordnung: Er sei wie die anderen Heimkinder oft weinend, mit blauen Flecken und aufgeplatzten Lippen zur Schule gegangen. Das ganze Dorf habe die malträtierten Kinder sehen können: «Ce qui est très dur, c’est le silence des gens» – das Schweigen der Menschen sei sehr hart.

Als er 16 ist, läuft er weg. Er schlägt sich bis Marseille durch und schliesst sich der französischen Fremdenlegion an. Noch nicht 20, kehrt er mittellos in die Schweiz zurück.

Folgen der Fremdplatzierung

Viele Frauen und Männer sind bis heute durch die körperlichen, psychischen, sozialen und finanziellen Folgen der Fremdplatzierung belastet: nächtliche Albträume, Angst- und Beziehungsstörungen, kleine Renten, teure Psychotherapien und hohe Zahnarztrechnungen.

Dazu kommen oft Hemmungen, sich an eine Behörde zu wenden. «Wo immer du hingehst, die Behörde ist immer schon über dich informiert», sagt Karin: «Die Massnahmen werden vielleicht beendet, wenn du 19, 20 bist. Aber du hast trotzdem lebenslänglich.»

Erinnerungsarbeit leisten

Das Landesmuseum Zürich setzt mit den zehn Video-Gesprächen zum Thema «Fremdplatziert» seine Reihe «Erfahrungen Schweiz» fort. Es sieht sich in der Pflicht, einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit zu leisten, sagt Kuratorin Rebecca Sanders.

Sie hat die Ausstellung zusammen mit der Historikerin Loretta Seglias konzipiert, die seit zwei Jahrzehnten zum Thema forscht und mit Betroffenen im Gespräch steht. Letztere war es auch, die die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ausgewählt hat.

Eine Person interagiert mit interaktiven Displays in einem modernen Ausstellungsraum.
Legende: In der Ausstellung «Fremdplatziert» können sich Besucherinnen und Besucher anhand von Videoinstallationen mit dem Schicksal der «fremdplatzierten» Kinder auseinandersetzen. Schweizerisches Nationalmuseum

Es sei wichtig, jene Normen und Werte zu kennen, welche die Gesellschaft lange Zeit prägten, sagt Rebecca Sanders. Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der schweizerischen Sozialpolitik konnten sich bis 1981 halten. Das bedeute auch, «dass immer noch Leute unter den Folgen leiden – und darüber müssen wir uns verständigen».

Ausstellungshinweis

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Die Videoinstallation «Fremdplatziert» der Reihe «Erfahrungen Schweiz» im Landesmuseum Zürich ist bis 27. Oktober 2024 und vom 17. Januar bis 13. April 2025 zu sehen.

Geplant sind zudem im Herbst und im nächsten Frühjahr Diskussionsveranstaltungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen . In diesem Zusammenhang steht auch die aktuelle Ausstellung «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert» im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz , die bis 27. Oktober 2024 dauert.

Das Landesmuseum leistet damit einen Beitrag zur Vermittlung des Themas Fremdplatzierung und fürsorgerische Zwangsmassnahmen in der Schweiz. Dazu wurde in den letzten Jahren wissenschaftlich geforscht, unter anderem im nationalen Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» des Schweizerischen Nationalfonds.

Weiter lanciert das Bundesamt für Justiz Projekte, um die gewonnenen Erkenntnisse einem breiten Publikum zu vermitteln. Dazu dient eine nationale Wanderausstellung , die im Oktober 2025 im Musée Historique Lausanne eröffnet und bis Ende 2027 in verschiedenen Städten gezeigt wird.

Radio SRF 2, Kultur-Aktualität, 12.08.2024, 08:15 Uhr

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