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Zwangsmassnahmen Verein will dem Grauen ein Gesicht geben

Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen – ein Verein beleuchtet ein Stück Schweizer Geschichte. 32 Betroffene erzählen.

Die Lebensgeschichte von Yvonne Barth ist eindrücklich: 1953 kam sie in Basel auf die Welt und fühlte sich von der eigenen Mutter nie geliebt. Die Mutter hatte kein Geld. Statt auf die Kinder aufzupassen, hatte sie lieber Herrenbesuch. So formulierten es die Behörden später in den Akten. «Ich musste viel weinen und frage mich: Wieso Mami, wieso?», erinnert sich Yvonne Barth.

Ich musste viel weinen und frage mich: Wieso Mami, wieso?

Schon bald war klar: Die kleine Yvonne kann nicht bei ihrer Mutter bleiben. Sie wurde wie viele andere Kinder von den Behörden fremdplatziert. Zuerst kam sie mit ihrem Bruder auf einen Bauernhof im Kanton Graubünden. Hier wurde sie von ihm immer wieder geschlagen.

Später wurde Yvonne Barth in einer «Mädchenerziehungsanstalt» in Liestal im Baselbiet untergebracht. Auch an diese Zeit hat sie keine schönen Erinnerungen: «Es gab regelmässig Kollektivstrafen von den Erzieherinnen.» Zudem wurde sie gehänselt aufgrund einer Behinderung am Fuss. Danach landete sie wieder bei ihrer Mutter, die sie nicht liebte. «Das Fundament und meine Wurzeln fehlten mir.»

Barth Portrait
Legende: «Das Fundament und meine Wurzeln fehlten mir», sagt Yvonne Barth über ihre Kindheit. Mario Delfino

Glück hatte Barth erst später im Leben, als sie dank eines verständnisvollen Arbeitgebers eine Ausbildung zur Therapeutin abschliessen konnte und sich anschliessend weiterbildete.

Kraft schöpft die Baslerin in der Musik. Bis heute komponiert sie eigene Lieder und spielt Harfe. Und Yvonne Barth will ihre Lebensgeschichte erzählen. Es sei wichtig, an der Aufarbeitung mitzuwirken – auch für all jene, die nicht mehr da sind.

Mehrere 100'000 Betroffene in der Schweiz

Yvonne Barth ist eine von mehreren 100‘000 Menschen, die in der Schweiz von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren und teilweise bis heute unter den Folgen leiden. Der neu gegründete Verein «Gesichter der Erinnerung» will diesen Menschen eine Stimme geben.

32 Geschichten wurden auf einer Internetseite zusammengetragen. In Videos, Bildern und Texten erzählen Betroffene über ihre Vergangenheit und die Folgen für sie und ihre Angehörigen. Mitgewirkt haben auch Historikerinnen und Historiker, die das dunkle Kapitel beleuchten. Zu Wort kommen auch Partner und Partnerinnen, Kinder und Berufspersonen. Finanziert wird das Projekt durch den Bund, Kantone und Stiftungen.

Die Kinder haben Gewalt erlebt und wurden gedemütigt.

«Die Kinder haben Gewalt erlebt und wurden gedemütigt», sagt MarieLies Birchler, Initiantin und Mitglied des Vereins «Gesichter der Erinnerung». Birchler wuchs in den 1950er Jahren in einem Kloster auf und auch sie wurde geschlagen, gefoltert, misshandelt.

Sie findet, der Staat und die Gesellschaft stünden nun in der Verantwortung. Deshalb sei es wichtig, dass man die Geschichten der Betroffenen kennt: «Diskriminierung und Gewalt bleiben auch heute präsent. Unsere Geschichte mahnt uns, nicht wegzusehen und Missstände mutig zu benennen.»

Das Erlebte in eigenen Lieder verarbeiten

Über das Erlebte zu sprechen, ist für viele Betroffene jedoch nicht einfach. Ihnen soll die Onlineplattform bei der Bewältigung des Erlebten helfen und Mut geben, so der Verein.

Auch für Yvonne Barth ist der Auftritt auf der Onlineplattform ein erster Schritt an die Öffentlichkeit. Sie habe sich immer wieder geschämt, über ihre Vergangenheit zu sprechen, auch innerhalb der Familie, sagt sie. Ihre Erlebnisse verarbeitet sie auch in Liedern, die sie selber schreibt: «Musikmachen und Lieder schreiben ist für mich ein Geschenk.»

Regionaljournal Basel 21.10.2022 17:30 Uhr ; 

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