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Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in Basel schildern ihr Erlebtes
Aus Regionaljournal Basel Baselland vom 11.03.2024. Bild: SRF
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Aufarbeitung Zwangsmassnahmen «Das Gefühl, ganz alleine zu sein, habe ich nie wegbekommen»

Der Basler Charles Martin wurde als Kind Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Nun arbeitet Basel-Stadt dieses dunkle Kapitel auf. Das ist eine Vorgabe des Bundes, der sich 2013 offiziell bei Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen entschuldigte.

Fotos aus seiner Kindheit hat Charles Martin keine. Schlechte Erinnerungen dafür zuhauf. Typisch für ein Kind, das Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurde. Die alleinerziehende Mutter hatte weder das Geld für einen Fotoapparat noch die Möglichkeit, sich um ihren Jungen zu kümmern. Die Behörden steckten ihn mit sieben Jahren ins Kinderheim. Dort interessierte man sich nicht für das Aufwachsen von Charles.

Charles Martin sagt, dass ihn die Behörden von seiner psychisch kranken Mutter weggenommen haben, sei richtig gewesen. Was danach passierte, sei aber die Hölle gewesen.

Es gab keine Liebe im Heim. Es gab nur Schläge mit dem Lederriemen.
Autor: Charles Martin Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen

Angekommen im Kinderheim, habe man ihn in einen Raum gesteckt und gesagt, er könne sich hier ausweinen. Niemand habe ihn getröstet. Und obwohl er zuvor sexuell missbraucht wurde und Mühe mit Körperlichkeit hatte, wünschte er sich nichts so sehr, wie ab und zu in die Arme genommen zu werden. «Es gab keine Liebe im Heim. Es gab nur Schläge», sagt er. Schläge mit dem Lederriemen auf die nackte Haut.

Wer sind die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen?

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Bis 1981 wurden in der Schweiz Kinder, Jugendliche und Erwachsene Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Ihnen wurde Unrecht angetan, hat der Bundesrat 2013 eingestanden. Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich damals öffentlich bei den Opfern. Zudem wurde ein Solidaritätsfonds eröffnet. Opfer haben Anrecht auf 25'000 Franken aus diesem Geldtopf.

«Eine kaputte Jugend kann man nicht mit 25'000 Franken aufwiegen», sagt Thomas Gall von der Opferhilfe beider Basel. Trotzdem hätten Betroffene, die nicht selten aufgrund ihrer schlimmen Jugend auch im Erwachsenenalter mit Finanzen zu kämpfen haben, den Betrag gerne genommen. «Vielen war aber die Anerkennung der Schuld des Staates besonders wichtig.»

Zehntausende Opfer

Recht auf Entschädigung haben Menschen, die ohne Gerichtsurteil «administrativ versorgt» wurden. Das sind zum Beispiel Menschen, die in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurden, weil den Behörden ihre Art zu leben nicht passte. Oder es sind Leute, die in ihrer Jugend von ihren Müttern getrennt und in ein Heim gesteckt wurden, weil die Mutter nicht verheiratet war. Auch ehemalige Verdingkinder können Geld beantragen. Sie mussten in ihrer Jugend meist auf Bauernhöfen arbeiten. Dort wurden sie ausgebeutet und teilweise sogar sexuell missbraucht. Auch wer als Heimkind misshandelt wurde oder Eltern hatte, die unter Druck gesetzt wurden, ihr Kind zur Adoption freizugeben, gehört zur Gruppe der Opfer.

Die Gruppe der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen ist gross. Der Bund schreibt: «Über das ganze 20. Jahrhundert wurden schweizweit mindestens 60'000 Personen in rund 650 Anstalten administrativ versorgt, ohne dass diese Personen ein Delikt begangen [sic.] und gerichtlich verurteilt worden sind.»

Nach wenigen Wochen kam Martin in ein anderes Heim. «Da wusste ich, dass ich jetzt alleine bin. Ganz alleine.» Dieses Gefühl habe ihn seither nie mehr verlassen. «Ich leide noch heute sehr darunter. Ich kann niemandem vertrauen, das schmerzt sehr.»

Viel später kam heraus, dass alles auch hätte anders kommen können. «Mein Onkel hatte mich gesucht, um mich aufzunehmen», sagt Martin. «Aber die Behörden haben ihm nicht gesagt, wo ich bin.»

Kantone müssen Verfehlungen aufarbeiten

Geschichten wie jene von Charles Martin hat der Bund bereits aufgearbeitet. 2013 entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei den Opfern offiziell. Sie bekommen 25'000 Franken ausbezahlt. Das ist ein «Solidaritätsbeitrag». Jetzt müssen die Kantone die eigenen Verfehlungen wissenschaftlich untersuchen. Basel-Stadt will zum Beispiel 600'000 Franken für die Aufarbeitung zahlen.

Aufarbeitung: Das machen die Kantone und die Schweiz

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Die Schweiz hat 2014 beschlossen, das dunkle Kapitel der administrativen Versorgungen aufzuarbeiten. Dafür hat der Bundesrat eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) eingesetzt. Sie hat die Geschichte und die Mechanismen der administrativen Versorgungen aufgearbeitet – und diese Untersuchung 2019 abgeschlossen.

Weiter soll ein Nationales Forschungsprogramm (NFP 76 «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft») eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung aller Betroffenengruppen liefern. Diese Forschungsarbeit soll auch eine Brücke zur Gegenwart und Zukunft bilden.

Die meisten Kantone arbeiten Geschichte auf

Ziel ist laut Bundesamt für Justiz (BJ), ein möglichst umfassendes Bild der verschiedenen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu erhalten.

Daneben untersuchen auch Kantone in verschiedenen Forschungsarbeiten die Geschichte ihrer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Die meisten Kantone betreiben Aufarbeitungsprojekte. So untersucht beispielsweise der Aargau «Medikamentenversuche an der Psychiatrischen Klinik Königsfelden 1950–1990», und im Kanton Zürich gab es etwa das Projekt «Menschen korrigieren. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen».

Gemäss Angaben des BJ führen die meisten Kantone eigene Untersuchungen.

In einem Kinderheim aufgewachsen ist auch Roger Brahier. Weshalb, weiss er nicht. «Meine Eltern sind in den 40er-Jahren durch Europa gefahren», erzählt er. «Weshalb, ist mir völlig unklar.» Jedenfalls kamen sie nach Bern. Dort trennten sie sich. Roger und sein Bruder kamen in ein Kinderheim.

Das Kinderheim war tipptopp.
Autor: Roger Brahier Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen

Ihm sei es nie so schlecht gegangen wie vielen andern Kindern, die in dieser Zeit in ein Heim verfrachtet worden sind. Die Betreuerinnen seien nett gewesen. Schläge oder gar sexuellen Missbrauch habe er nie erlebt.

Was Brahier aber zu schaffen macht, ist, dass er nicht auf das Leben vorbereitet worden ist. «Überhaupt nicht.» Er habe beim Heimaustritt mit 16 Jahren nicht einmal gewusst, dass man sich die Haare mehr als einmal monatlich waschen sollte und sich um saubere Kleider bemühen muss.

Geschichte sollte sich nicht wiederholen

In seine erste Ehe stolperte Roger Brahier geradewegs hinein. Er habe mit 20 Jahren eine Frau kennengelernt. Sie wurde schwanger von ihm. «Hätte ich sie sitzen lassen, hätte sich die Geschichte wiederholt», sagt er. Also heiratete das Paar. Doch die Ehe ging in Brüche.

Brahier heiratete später noch einmal. Er und seine zweite Frau haben zusammen ein Kind und mittlerweile ein Grosskind. «Wahnsinnig, wie gut das Mädchen zeichnet», sagt Brahier. Er selbst hatte nie Farbstifte. Jetzt freut er sich, dass sein Grosskind das hat, was ihm in seiner Jugend fehlte.

Regionaljournal Basel, 6.3.2024, 17:30 Uhr;

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