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Grosse Fülle – wenig Struktur: Warum die Schweiz bei der Begabtenförderung im Rückstand ist.
Aus Kontext vom 04.06.2019. Bild: imago images / Ikon Images
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Begabte Kinder Jedes fünfte Schulkind ist unterfordert

Tut die Schweiz genug für begabte Kinder? Experten und Lehrer sehen Nachholbedarf.

Im Petersschulhaus in Basel gibt es ein sogenanntes «Pullout-Zimmer». Es ist ein kleines Zimmer für eine besondere Klasse. Fünf besonders begabte Kinder im Alter von neun und zehn Jahren können hier einen Vormittag lang in ihrem Tempo auf ihrem Niveau an einem eigenen Thema arbeiten.

Eine tolle Sache für die Buben und Mädchen. «Ich finde es mega», sagt ein Kind. «Schule macht Spass, aber das hier macht mehr Spass, wir sind hier viel selbstständiger», sagt ein anderes.

Fehlende Regeln

Das Pullout-Programm ist ein Element eines mehrstufigen Förderprogramms in Basel-Stadt. Der Stadtkanton tut viel, um begabte Kinder zu fördern. Auch in der Stadt Zürich mit ihrem hohen Anteil an bildungsbeflissenen Eltern kommen besonders kluge Kinder auf ihre Rechnung.

Kinder rennen in die Schule.
Legende: Sind Kinder auf der Überholspur, haben sie ebenfalls Förderbedarf. Keystone / GEORGIOS KEFALAS

Doch Basel und Zürich sind bei weitem nicht die Norm: «An vier von fünf Schulen hierzulande gibt es keine systematische Förderung von Begabten», sagt Victor Müller-Oppliger, Professor an der Pädagogischen Hochschule FHNW.

Der Schweiz fehlten verbindliche Regeln und Strukturen, um den Bedürfnissen solcher Kinder zu entsprechen.

Förderung im Ausland selbstverständlich

In den meisten hochentwickelten Bildungsnationen ist die Begabtenförderung bildungspolitisch fest verankert. Österreich etwa leistet sich ein grosses Zentrum für Begabungsförderung, das – so Müller-Oppliger – mit Ressourcen ausgestattet sei, um «national wirksam» zu sein.

Deutschland fördert «leistungsstarke und leistungsfähige» Kinder in einem bundesweiten Projekt, dem sogenannten Lemas-Projekt, dem 125 Millionen Euro zur Verfügung stehen.

Ganz zu schweigen von Ländern ausserhalb Europas: «In Kanada und den USA, aber auch in Korea oder Japan ist Begabtenförderung selbstverständlich, es geht ja um die klugen Köpfe von morgen», so Müller-Oppliger.

Sich um kluge Kinder kümmern

In der Schweiz gibt es zwar eine Vielzahl von Programmen, Projekten und Initiativen, die sich ums begabte Kind kümmern. Jeder Kanton, der etwas auf sich hält, schreibt sich die Begabtenförderung auf die Fahne beziehungsweise ins Leitbild seiner Volksschule.

Verbindlich aber ist dies alles nicht. Ein beträchtlicher Anteil dieser Programme wird ausserdem von Stiftungen finanziert. Der Staat sieht sich kaum in der Pflicht: «Begabte zu fördern gilt als nice to have», bilanziert Victor Müller-Oppliger. «Die Schule ist überall so gut, wie die Leute vor Ort kompetent sind und sich Mühe geben.»

Dabei wäre jedes fünfte Schulkind zu deutlich mehr fähig, als es in der Schule tatsächlich leistet. Das zeigen zahlreiche Studien. Doch: Machen besonders kluge Kinder nicht ohnehin ihren Weg? Ohne, dass sie speziell gefördert werden?

Ein Bub hängt seinen Schulsack auf.
Legende: Auch bei begabten Kindern besteht Förderbedarf: In der Schweiz fehlen aber verbindliche Regeln und Strukturen dafür. Keystone / GEORGIOS KEFALAS

Letizia Gauck, Expertin für Begabtenförderung an der Universität Basel, verneint: «Dieses Vorurteil hat sich sehr lange gehalten», sagt sie. «Heute wissen wir eindeutig: Potenzial setzt sich nicht automatisch in Leistung um.»

Wenn talentierte Kinder sich schulisch nicht abgeholt fühlen kann ihnen das schaden. Im schlimmsten Fall werden sie zu Schulverweigerern. Deshalb gilt es zunächst, diese Kinder überhaupt zu erkennen.

Talente nutzen

Denn sie fallen in der Klasse nicht ohne weiteres auf, auch den Lehrpersonen nicht. Victor Müller-Oppliger geht davon aus, dass mindestens ein Drittel der Kinder mit «Potenzialen» in der Klasse übersehen werden.

Was also soll man tun? «Zunächst einmal die Lehrerinnen und Lehrer sensibilisieren», sagt Müller-Oppliger. Die FHNW hat unter anderem ein Screening entwickelt – ein Instrument, mit dem in Basel-Stadt alle Schülerinnen und Schüler zu Beginn der 3. Klasse umfassend getestet werden. Ziel ist herauszufinden, ob ein Kind möglicherweise nicht sein ganzes Talent nutzt.

Doch über die Schulen hinaus wünscht sich Müller-Oppliger mehr Rückenwind der nationalen Bildungspolitik. «Ein Land wie die Schweiz ist auf Talente dringend angewiesen», sagt er.

Talente seien ein wesentliches Element des sozialen und ökonomischen Kapitals. «So gesehen ist Begabtenförderung nicht einfach nice to have, sondern verpflichtend», sagt Müller-Oppliger.

Video
Maximilians Welt – aus dem Leben eines Hochbegabten
Aus Reporter vom 26.04.2015.
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