Zu Sowjetzeiten war Daugavpils die schmutzigste Stadt Lettlands. Heute ist der Himmel über der zweitgrössten Stadt der Baltenrepublik wieder blau.
Viele Sehenswürdigkeiten gibt es nicht. Immerhin: Die Stadt investiert viel Geld in das Mark-Rothko-Kunstzentrum in der historischen Dünaburg. Rothko, einer der bedeutendsten Vertreter des abstrakten Expressionismus, wurde in der Stadt geboren.
Und dann gibt es noch etwas in Daugavpils: Unweit des Stadtzentrums ragt ein 37 Meter hoher Ziegelsteinturm in den Himmel.
Willkommen in Nordeuropas ältester Munitionsfabrik
«Bevor ich ihnen zeige, was es mit diesem Turm auf sich hat, müssen sie alle unterschreiben», begrüsst der 40-jährige Pavels Latgails seine Besucher. Er klopft auf einen Stapel Sicherheitsinstruktionen: Willkommen in Nordeuropas ältester Fabrik für Jagd- und Sportmunition!
«Seit 1885 werden hier mit weitgehend gleicher Technik Bleikugeln für Jagd- und Sportwaffen hergestellt und bis heute in europäische Länder geliefert.» Dazu braucht es geschmolzenes Blei auf dem Turm.
Pavels zeigt auf eine Tür: «Um das Blei nach oben zu bringen, nutzen wir diesen Fahrstuhl. Oben wird das Blei geschmolzen und durch ein Sieb in die Tiefe gekippt. Es entstehen Bleitropfen, die vom Turm in einen Brunnen fallen.»
Perfekte Kugeln dank einem Brand
Die Fabrik nutzt eine Entdeckung von William Watts. Der hatte im 18. Jahrhundert bei einem Brand der St. Maria Redcliff Kathedrale von Bristol beobachtet, dass schmelzende Bleitropfen von den Dachschindeln sich während ihres Falls zur Erde in perfekte Kugeln verwandelten.
«Über Jahrhunderte war Blei einer der wichtigsten Werkstoffe», erklärt Pavels: «Für Bleirohre, Bleiverbindungen, später Bleizusätze im Benzin. Bis ein amerikanischer Arzt feststellte, dass Blei sich wie ein schleichendes Gift im Körper des Menschen anreichert, dauerte es Jahrzehnte.»
Erst seit 1996 versucht man in Europa den Bleieinsatz auf das Allernotwendigste zu beschränken. «Nur: Für die Jagd- und Sportmunition wurde keine wirkliche Alternative gefunden.»
Eine Tonne Blei, drei Millionen Kugeln
So entstehen aus einer Tonne geschmolzenem Blei in Daugavpils noch immer drei Millionen Bleikugeln, die ein ächzender Lift aus dem Brunnen unter dem Turm zutage fördert.
«1962, nach der letzten Rekonstruktion, wurden hier noch 2000 Tonnen Blei zu Kugeln verarbeitet. Heute wird dieser Teil der Fabrik nur noch zweimal im Jahr in Betrieb genommen, um zwei Tonnen Blei zu verarbeiten. Denn es gibt heute moderne Methoden der Herstellung, bei der das Blei nicht mehr geschmolzen werden muss.»
Die traditionelle Art der Produktion ist eigentlich passé. Um die alte Anlage dennoch zu erhalten, kam den heute noch drei Mitarbeitern die Idee, sie zu einer touristischen Attraktion zu machen.
2015 bewarb sich die Daugavpilser Bleikugelfabrik um den Titel «Industrielles Kulturerbe Europas». Dass sie diesen Titel wirklich bekommen würden, hätten sie nicht wirklich geglaubt.
Die Fabrik zieht Touristen an
Für Pavels ist die Entscheidung aber logisch. «Auf der Welt kenne ich nur vier Orte, an denen es noch ähnliche Fabriken gibt», sagt er.
In Tscheljabinsk in Russland, in England und in Remington in den USA werden Bleikugeln nach diesem Verfahren hergestellt. «Die älteste von allen Fabriken aber ist unsere hier in Daugavpils.»
Inzwischen hat sich das kleine, immer noch produzierende Industriemuseum zu einem Touristenmagneten gemausert. Heute besuchen bereits mehr als 2000 Touristen im Jahr die Fabrik.
Sie sind wichtig für Daugavpils, eine Stadt, die seit Jahren mit der Abwanderung seiner Einwohner zu kämpfen hat. «Wir müssen unsere Stadt dringend attraktiver machen», sagt Pavels. Der Titel «Industrielles Kulturerbe» habe dabei definitiv geholfen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 31.08.2018, 17.40 Uhr