Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

Bilder aus der Palliativpflege So sieht das Leben aus – fotografiert von denen, die sterben

Fotografie in der Palliative Care: Was bleibt, wenn nicht mehr viel Zeit bleibt? Die Fotografin Tina Ruisinger zeigt das Leben im Angesicht des Todes.

Sterben ist Alltag. Nur wir tun so, als ginge uns das nichts an.

Auf der Palliativstation des Zürcher Spitals Zollikerberg durften Patientinnen und Patienten zur Kamera greifen – und ihr Gefühl in ein Foto übersetzen. Die Fotografin Tina Ruisinger hat ihre Bilder, Sätze und Geschichten zwei Jahre lang gesammelt und daraus das Fotobuch «Lebensbilder» gemacht.

Eine Nelke lässt den Kopf hängen
Legende: Eine Tulpe auf dem Nachttisch der Palliativstation – schlicht, vergänglich, und doch voller Gegenwart. Lebensbilder / Tina Ruisinger

Darin sind Bilder und Sätze, die zeigen, wie es sich anfühlt, nicht mehr nach vorn, sondern mitten ins Jetzt zu schauen. Sie bringen auch Tränen, ja. Aber nicht die grossen, dramatischen. Sondern die stillen. Denn viele der Porträtierten blicken nicht bitter zurück, sondern fast heiter: «Auf meinem Grab soll einmal stehen: Sie starb vor zu viel Glück und Liebe im Leben.» Andere formulieren die Gelassenheit des Aufbruchs: «Ja, ich würde jetzt gerne sterben.»

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Tina Ruisinger: «Lebensbilder». Christoph Merian Verlag, 2025.

Die kleinen Dinge

Die Aufnahmen zeigen, was bleibt: Hände, die einander halten. Ein Familienfoto, Haustiere, Blumen auf dem Nachttisch – kleine Farbtupfer im grauen Stationsalltag. Und Stimmen, die ihr Leben resümieren:

«Ich erinnere mich gut daran, als die Kinder klein waren, die Jungs ins Bett gekrochen sind.»

«Das ist doch kein Leben, ich habe Schmerzen von Kopf bis Fuss.»

«Ich habe das Leben voll aufgenommen. Es kann passieren, was will.»

Ein Foto von zwei Männern beim Rugbyspielen, daneben ein Foto mit einem Glas Blumen
Legende: «Es war mein Leben», schreibt der 87-jährige John über Rugby – das Spiel, das ihm die Welt bedeutete. Lebensbilder / Tina Ruisinger

Das Projekt verbindet Fotografie und Therapie. «Auf einer Palliativstation ist mehr Lebendigkeit, als man sich vorstellt», sagt Ruisinger. Patientinnen wählen Fotos aus, betrachten sie erneut oder fotografieren selbst, was sie umgibt. «Das grosse Ganze zählt dann nicht mehr», sagt sie. «Es geht um die kleinen Dinge – den Lichtstrahl, der an Wärme erinnert, oder den Enkel, der alles bedeutet.»

Was bleibt

Im Buch klingen grosse Fragen leise an: Was bleibt, wenn nicht mehr viel Zeit bleibt? Was hat Gewicht, wenn alles Leichte von uns fällt? Gennaro, 82, gibt eine einfache Antwort: «Für mich ist das Schönste im Leben die Familie, wenn man das Gefühl hat, dass man gerufen wird: ‹Ciao papà, buonasera papà, buonanotte papà, a domani!›»

Ein heller Vorhang mit Falten und Schatten
Legende: Licht auf den Vorhängen – ein flüchtiger Glanz, der den Raum für einen Moment verwandelt. Lebensbilder / Tina Ruisinger

SRF-Philosophin Barbara Bleisch steuert dem Fotobuch einen Essay bei, der den Tod entwaffnet. Sie lässt Woody Allen raunzen: «Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.» Und Theatermacher Christoph Schlingensief toben: «Ach, das ist alles eine Scheisse!» Dann zieht sie den Boden unter den Silicon-Valley-Träumen von Unsterblichkeit weg: «Gestorben», schreibt sie kühl, «ist am Ende jede und jeder.» Unvermeidbar, leider. Und zum Glück.

Sterben als Teil des Lebens

«Lebensbilder» ist kein Buch über den Tod. Es ist ein Buch über das Leben in seiner letzten, härtesten Verdichtung. Die Fotografien zeigen Menschen, die loslassen – und Menschen, die festhalten. Auch für Tina Ruisinger hat diese Arbeit etwas Ungeahntes geöffnet: «Das Projekt hat mir die Angst genommen – mich sogar neugierig gemacht. Sterben ist wie eine Geburt. Jeder stirbt komplett anders.»

Ein Kissen in Herzform
Legende: «Das Herz? Das steht für ganz viel Schönes in meinem Leben», sagt Margarethe, 90. Lebensbilder / Tina Ruisinger

So wird das Sterben sichtbar, nicht als Tabu, sondern als Teil des Lebens. Ein letztes Bild, ein letztes Wort. Menschen, die einander halten. Und der Satz einer 93-Jährigen, der so leicht klingt wie ein Sommerabend: «Ich wäre jetzt gerne unterwegs in ein schickes Restaurant, um meine neue Frisur zu zeigen.» 

SRF1, Tagesschau, 2.9.2025, 19:30 Uhr

Meistgelesene Artikel