Tobias Litterst hat nie gesehen. Er wurde 1987 blind geboren und für ihn war das als kleines Kind erstmal ein Normalzustand. Eine Autofahrt veränderte seine Wahrnehmung dann aber plötzlich: Auf dem Rücksitz, bei offenen Fenstern, begann sein Bruder – die Arme draussen im Fahrtwind – die vielen Dinge, die am Strassenrand auftauchten, zu beschreiben: Häuser, Schafe, Bäume, Wolken.
Litterst meinte zu seinem Bruder: «Du hast aber lange Arme, dass du das alles aus dem Fenster heraus ertasten kannst!» Daraufhin hätte sein Bruder gesagt, er würde das sehen, etwas, was er, Tobias, eben nicht könne. In diesem Augenblick wurde Tobias Litterst bewusst, dass er nicht denselben Zugang zur Welt hatte, wie andere.
Leben in einer Spielzeugwelt
Dank seiner Mutter, die ihn mit unablässigen Tast-, Riech- und Hörerlebnissen «zum zweiten Mal zur Welt brachte», erfährt Litterst die Welt auf seine Weise. Der Adler als Playmobil-Vogel bekommt Kontur, schwieriger wird es beim Horizont. Wie hat er es mit der Vorstellung von Dingen, nach denen man nicht greifen kann, wie dem funkelnden Sternenhimmel?
«Das ist ein bisschen so, als würde ich jemandem von Gespenstern erzählen, die ich sehe», so Litterst. «Dann versucht man, sie sich mit irgendwelchen Bildern gegenwärtig zu machen, ohne sie bildlich wirklich zu treffen». Beim Sternenhimmel denke er zum Beispiel an den Christbaumschmuck, an Kristalle oder Sterne, Dinge, die er mal in den Händen hielt.
Weil nicht tast- oder nicht hörbare Dinge für ihn konturlos und flüchtig bleiben, wird die Welt eher eine Abfolge von Ereignissen als eine Ansammlung statischer Objekte. Eine Übersicht fehlt. Litterst betont die Rolle der «Einbildung» – ein Begriff, den er dem der «Vorstellung» vorzieht –, um zu beschreiben, wie er aus tastbarem Material nicht tastbare, räumliche Bilder konstruiert.
Laute Geräusche können seine Welt auf einen einzigen Punkt reduzieren und Beklemmung auslösen, während ihm Musik ein Gefühl von Freiheit und umfassender Erfahrung vermittelt. Oft würden ihn Leute auch fragen, ob es für ihn dunkel sei. Darauf könne er keine Antwort geben, weil es für ihn ja gar nie hell war.
Träumen Blinde in Bildern?
Ja, auch Blinde träumen. Litterst beschreibt, dass er «filmisch» träumt, wobei seine Träume aus einer Kombination von Tast-, Geruchs- und Höreindrücken bestehen. Er verweist auf Studien des portugiesischen Biophysikers Helder Bértolo.
Die zeigen, dass die visuellen Kortexe im Gehirn von blinden und sehenden Menschen beim Träumen gleichermassen aktiv sind – und, dass die nach dem Schlaf aufgezeichneten Traumszenarien sich oft erstaunlich ähnlich sind. Menschen, die noch nie im Leben sehen konnten, waren also dennoch in der Lage, Träume zu visualisieren.
Hat Blindheit einen Sinn?
Im Zeitalter des Visuellen interpretiert Litterst die Welt zunehmend als Ansammlung sichtbarer Dinge. Blindheit bringe diese «Verdinglichung» ans Licht und stelle sie infrage. Für ihn ist Blindsein kein Defizit, sondern ein Sinn stiftender Zustand – ein philosophisches Instrument zur Hinterfragung der vorherrschenden Sinnesordnung, zur Reflexion über Identität und Glück und ein Weckruf gegen gesellschaftliche Klischees. Die Philosophie habe ihm die Augen geöffnet.