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Sakamoto: «Die soziale Demokratie ist ein totaler Mythos.»
Aus Kultur Extras vom 07.01.2014.
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Brasilien Blogger Sakamoto: «Jetzt kommt die Zeit der jungen Leute»

Leonardo Sakamoto schreibt in seinem vielbeachteten Blog gegen Korruption im brasilianischen Polit-Betrieb an. Die Proteste vom Juni 2013 waren für ihn erst der Anfang. Es gehe darum, in Brasilien eine Zivilgesellschaft zu schaffen. Immer mehr Leute seien bereit, dafür auf die Strasse zu gehen.

Leonardo Sakamoto, die Weltmeisterschaft beginnt in sechs Monaten, wie ist die Atmosphäre auf der Strasse und innerhalb der Protestbewegung?

Nun, es gibt widersprüchliche Gefühle. Fussball ist hier in Brasilien sehr wichtig. Die Leute freuen sich grundsätzlich, dass wir die Zusage für die Weltmeisterschaft erhalten haben. Gleichzeitig realisierten sie, dass sehr viel Geld in etwas investiert wird, was das Leben der meisten in den nächsten Jahren wohl nicht verändern wird. Das zeigten gewisse Forderungen bei den Protesten im vergangenen Juni. Als die Leute auf die Strasse gingen, wollten sie hauptsächlich die Preiserhöhung im öffentlichen Verkehr rückgängig machen. Zugleich brachte diese Atmosphäre andere Forderungen in die öffentliche Debatte. Themen wie Korruption, Bildung, das Gesundheitssystem – Fragen der Menschenwürde sozusagen.

Was im Juni geschah, war sehr wichtig und schuf Klarheit, was die Möglichkeiten der Zukunft betrifft – es war eine Katharsis. Doch es dürfte schwierig werden, sowas zu wiederholen. Die jungen Leute verlangen mehr Partizipation, mehr Mitsprache – aber eben auf ihre Weise, indem sie digitale Plattformen nutzten. Die Regierung hat das noch nicht begriffen, die Politiker fürchteten sich vor den Forderungen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Leute erneut zusammen zu bringen – zu einem Thema, einer Forderung. Was wäre Ihr Grundanliegen?

Ich kämpfe für Menschenrechte in Brasilien, alles, was dieses Thema tangiert, wäre natürlich grossartig. Aber die Frage ist, ob die Brasilianer darauf vorbereitet sind. Wenn man sich umhört, stellt man fest, dass die Leute müde sind. Es ist schwierig, Leute zum Protest auf die Strasse zu bringen. Es ist einfacher, wenn alle dieses Feuer, diese Genugtuung mitbringen, als wenn man erst sensibilisieren muss.

Die Leute der brasilianischen Bewegung «Passe livre» waren sehr schlau. Sie fanden mit der ÖV-Preissenkung ein Thema, das jeden betrifft und jeder versteht. Es geht nicht einfach um 20 Cents, sondern darum, was diese 20 Cents repräsentieren. Nämlich wie die Regierung dich sieht. Was im Juni geschah, ist lediglich ein Symptom. Das Symptom einer schleichenden Veränderung.

Blogger Leonardo Sakamoto
Legende: Blogger Leonardo Sakamoto kämpft für mehr Menschenrechte in Brasilien. Youtube

Ist es eine nachhaltige Bewegung?

Wir sehen jetzt eine Art Photographie der Zukunft, noch nicht die Zukunft selbst. Verlangt jetzt nicht von der Bewegung, alle Probleme zu lösen, die sie auf den Tisch gebracht hat. Die jungen Leute werden das nicht tun. Sie entdecken gerade erst, dass sie fähig sind, etwas zu bewegen. Und die älteren Leute haben ebenfalls entdeckt, dass die Jungen zu sowas fähig sind. Jetzt kommt die Zeit dieser jungen Leute, denen es gefiel, auf die Strasse zu gehen. Das ist nicht wie in Europa, wo die Leute geradezu fühlen, dass der öffentliche Raum ihnen gehört. Hier in Brasilien ist das nicht so klar. Die Gruppe, die erstmals auf der Strasse war, fordert nun den Diskurs.

Also ist die grosse Chance der Weltmeisterschaft die politische Sozialisierung der jungen Generation?

Ich denke, das ist ein guter Punkt. Das Beste wäre aber gewesen, die Leute erst zu fragen, bevor man anfängt mit der Bauerei, mit dem Umsiedeln armer Menschen, mit den Investitionen in Stadien. Fragt die Bevölkerung zuerst, ob sie das will! Oder ob man das ganze Geld in was anderes steckt. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Das Geld ist ausgegeben, die Stadien fast bereit.

Wie kann denn der einzelne Brasilianer lernen, sich für die Gesellschaft verantwortlich zu fühlen?

Ich glaube, der beste Weg ist Bildung. Bildung als übergeordnetes Bewusstsein, auch für das eigene Leben. Man kann den Leuten helfen, dies zu realisieren, sich gegenseitig zu kennen und dem Andersartigen zu begegnen. In Brasilien redet man gerne von Toleranz. Ich mag Toleranz nicht, es bedeutet: «Ok, du bist nicht so gut wie ich, ich mag dich nicht so, aber ich toleriere deine Existenz.» Nein! Es geht darum, die Unterschiede zu lieben! Die Leute haben Angst und sie haben nicht genügend Information über das, was mit ihrer Gesellschaft geschieht. Sie kennen sich nicht, und die Leute haben Angst vor dem, was sie nicht kennen.

Also ist die plurale Gesellschaft ein Mythos?

Ja, die ethnisch soziale Demokratie Brasilien ist ein totaler Mythos. Du kannst dich schon bewegen, solange du den Standards des Status quo gehorchst. Doch wenn Frauen frei sein wollen? Nix da. Oder die jungen Leute in den Slums: Die haben nicht dieselben Rechte wie Söhne und Töchter der Mittelklasse. Brasilianer lieben zwar die Geschichten von Selfmade-Männern und -Frauen, die reich wurden und ihr Leben veränderten. Aber ich rede von echten Veränderungen. Doch sobald Du dich über die Norm, den Status quo, hebst, bist du jemand, der kontrolliert werden muss.

Das private Eigentum ist der Fels, auf dem die brasilianische Gesellschaft organisiert ist. Es geht nicht darum, Leben zu verteidigen, sondern Privatbesitz. Brasilien ist eine Plattform mit Exportgütern für die ganze Welt. Es ist kein Ort der Würde für jedermann.

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