Es sind nicht die krassen Missbrauchsfälle, wie man sie von der römisch-katholischen Kirche kennt, um die es hier geht. Natürlich gibt es diese auch bei den Reformierten .
Doch was in den letzten Wochen durch die Meldungen im Netz unter #ChurchToo vor allem zu Tage kam, war mehr oder weniger subtiles, übergriffiges und sexistisches Verhalten: anzügliche Bemerkungen eines Brautvaters zur Pfarrerin, unerwünschte Berührungen von einer Gottesdienstbesucherin gegenüber dem Pfarrer, sexistische Äusserungen im Kirchgemeinderat über die Katechetin oder eine zu innige Umarmung nach einem Seelsorgegespräch.
Übergriffe im Graubereich
«Die meisten Fälle, die wir bearbeiten sind strafrechtlich nicht relevant, sondern bewegen sich im Graubereich des Erlaubten», erklärt Sabine Brändlin, Präventionsverantwortliche zum Thema Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe bei der Reformierten Landeskirche Aargau.
Doch auch Belästigungen dieser Art seien schwierig in der Aufarbeitung. «Sobald ein Fall gemeldet ist, sind wir verpflichtet, genau zu prüfen, was vorgefallen ist und was für ein Problem dem Sachverhalt möglicherweise zugrunde liegt. Das kann sehr komplex sein», so Brändlin.
Keine genauen Zahlen
Genaue Zahlen zu sexuellen Übergriffen in den Reformierten Landeskirchen der Schweiz gibt es nicht. Was in den Kirchgemeinden und in der Freiwilligenarbeit passiert, wird nicht statistisch festgehalten.
Auch eine landesweite Präventionsstrategie fehlt bisher. Sie sei in Planung, schreibt der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK auf Anfrage. Somit ist es vorläufig den Kantonalkirchen überlassen, wie sie mit den einzelnen Fällen und mit der Präventionsarbeit umgehen.
Zu wenig Bewusstsein für Machtgefälle
Diese Zurückhaltung verwundert Andreas Borter nicht. Der Theologe und ehemalige Leiter des Schweizerischen Instituts für Männer- und Geschlechterfragen ist immer wieder überrascht, wie wenig Sensibilität in kirchlichen Kreisen zu finden sei, wenn es um Macht und Abhängigkeit gehe.
«Kulturen wie die Kirche, in der Menschlichkeit und Geschwisterlichkeit gepflegt wird, sind ganz besonders anfällig für Grenzverletzungen und Übergriffe», betont Borter. Man nehme dort das Machtgefälle zu den Schutzbefohlenen und die realen Abhängigkeitsverhältnisse zu wenig ernst. «Das schafft Unklarheiten und öffnet Tür und Tor, um Situationen auszunutzen.»
Keine alten Rollenbilder zementierten
Deshalb begrüsst der Theologe die Debatte über Sexismus und Macht in der reformierten Kirche, die #ChurchToo anstösst. Aber er findet auch, dass es nicht bei der – berechtigten – Empörung bleiben sollte.
«Es darf nicht sein, dass man nach der Anklage und der Empörung im Netz bloss mit dem Finger auf Sündenböcke zeigt und das Thema anhand dieser Un-Männer abhandelt.» Andreas Borter sieht die Gefahr eines Backlashs: «Damit werden nur alte Rollenbilder, die Männer als Täter und die Frauen als Opfer, zementiert. Das bringt uns alle nicht weiter.»
Feminisierung als Schimpfwort?
Auch Stephan Jütte, Theologe bei der Reformierten Kirche Zürich sieht grossen Handlungsbedarf in Bezug auf den Umgang mit Geschlechterfragen und Sexismus in der Kirche. «Es darf nicht sein, dass man in der Kirche von Feminisierung spricht, als ob es eine Krankheit wäre.»
Anstatt sich zu freuen, dass viele Frauen das kirchliche Leben mitgestalteten und Verantwortung übernähmen, hafte dem Wort Feminisierung etwas Abwertendes an. «Dieses negative Geschlechterdual zeigt sich auch bei hohen Festen», so Jütte.
«Es braucht keine Frauenförderer oder noble Beschützer»
Als Beispiel nennt er die 500-Jahre-Reformationsfeierlichkeiten im letzten Herbst in Bern: Die Frauen haben dort gelesen und gebetet und die Männer gepredigt und gesegnet. «Diese Rollenverteilung zeigt doch, dass in der reformierten Kirche die wirklich wichtigen Dinge immer noch den Männern vorbehalten sind.»
Ein Fazit, das Frauen und Männern gleichermassen zu denken geben sollte. Denn echte Lösungen sind nur gemeinsam zu finden. Oder wie Andreas Borter es formuliert: «Es braucht keine Frauenförderer oder noble Beschützer, sondern echten Dialog, in dem sich beide Geschlechter füreinander interessieren und sich gegenseitig ernst nehmen.»