Bei den Diözesen können sich Opfer von sexuellen Übergriffen melden und werden dann von Fachgremien aus den Bereichen Recht, Psychologie, Seelsorge begleitet. Trotz dieses relativ unkomplizierten Angebots ist sich Prestele bewusst, wieviel Kraft es ein Opfer kostet, sich zu melden und seine Geschichte zu erzählen.
«Wer die Kraft aufbringt, über den Übergriff zu sprechen, muss ernsthaft gehört werden. Er muss eine echte Entschuldigung mit entsprechender Empathie erwarten dürfen. Meist kommt zum grossen Schmerz und Leid noch eine tiefe Enttäuschung über die Kirche als moralische Instanz hinzu.»
Ehrliche Kirche statt kirchliche Ehrlichkeit
2010 trat die Schweizer Bischofskonferenz in Einsiedeln zum ersten Mal öffentlich mit einem grossen Eingeständnis auf. Vieles sei in der katholischen Kirche falsch gelaufen ist. Die Opfer sexueller Gewalt im kirchlichen Umfeld wurden ermutigt, sich zu melden. Rund 110 Menschen folgten damals diesem Aufruf.
«Innerhalb der katholischen Kirche fand ein Paradigmenwechsel statt», sagt Giorgio Prestele, «man kam immer mehr vom Gedanken weg, den Schutz der eigenen Institution vor denjenigen der Opfer stellen. Es war ein Weg von der kirchlichen Ehrlichkeit zur ehrlichen Kirche.»
In den Schweizer Dörfern gab es drei Könige: der Gemeindepräsident, der Lehrer und der Pfarrer.
Laut Prestele herrschte vor dem Jahr 2000 in der Kirche Eiszeit bei diesem Thema. Es gab kein Verständnis, keine Empathie für die Opfer. Fehlbare Priester wurden still und heimlich versetzt, oft ins nahe Ausland. In den Schweizer Dörfern gab es drei Könige: der Gemeindepräsident, der Lehrer und der Pfarrer. Und diese drei Personen waren unantastbar. Zum Glück fand inzwischen ein gesellschaftlicher Wandel statt.
Dieser gesellschaftlichen Öffnung, in der auch über Sexualität gesprochen wird, konnte sich die Kirche nicht verschliessen. Junge Männer, die sich heutzutage für das Priesteramt berufen fühlen, lernen in ihrer Ausbildung einen gesunden Umgang mit ihrer eigenen Sexualität.
Prestele: «Ein Mann wird als Priester nicht plötzlich zum asexuellen Wesen. Er muss den richtigen und professionellen Umgang mit Nähe und Distanz in seelsorgerischen Beziehungen lernen. Er muss in der Lage sein, unprofessionelle Emotionen in sich selber zu erkennen und auf diese entsprechend zu reagieren. Und die Kirche muss ihn dabei unterstützen.»
Ein Mann wird als Priester nicht plötzlich zum asexuellen Wesen.
In den neuen Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz wurde unter anderem die Anzeigepflicht nochmals verschärft. Seit Ende 2016 gibt es einen Genugtuungsfonds für Opfer von verjährten sexuellen Übergriffen. Per Ende November 2017 sind bei der zuständigen unabhängigen Kommission 42 Anträge auf Genugtuungszahlungen eingegangen. 30 Fälle sind bereits abgeschlossen und Genugtuungsbeiträge von insgesamt 375'000 Franken bezahlt.
«Die Chancen, dass es mutige Menschen gibt, die nicht schweigen und wegschauen, sind heute grösser. Deshalb bin ich relativ zuversichtlich, dass wir auf einem guten Weg sind. Aber es darf nicht passieren, dass wir uns in Zufriedenheit zurücklehnen und sagen, super, wir haben alles im Griff. Das wäre absolut falsch und das Dümmste, das wir tun könnten», sagt Prestele.
Verdecken und verschweigen
Der Dokfilm «Hinter dem Altar» zeigt, in welche Seelennöte ein Kind gerät, wenn sein Vertrauen in den Pfarrer von diesem missachtet und missbraucht wird. Die Dokumentation geht der Frage nach, ob es bei Fällen von sexueller Gewalt in der katholischen Kirche um fehgeleitete Individuen gehe, oder vielmehr um ein fehlerhaftes System. Prestele meint dazu:
«Es gelten immer beide Faktoren. Aber es ist richtig, das System katholische Kirche hat sehr lange das allgemeine Verdecken, das grosse Verschweigen gefördert. Nur so konnten diese schlechten Biotope überhaupt überleben. Papst Franziskus verurteilt sexuelle Gewalt so scharf und deutlich, wie keiner seiner Vorgänger dies getan hat. Aber auch er arbeitet in einem riesigen, weltweiten System unterschiedlichster Kulturen. Obwohl die Kirche hierarchisch strukturiert ist, besitzt auch der Papst keinen Schalter, den er umdrehen kann, und dann ticken alle Köpfe in seinem Sinne. Es braucht Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, es braucht Bischöfe, die sich deutlich gegen jegliche sexuelle Gewalt aussprechen.»