Zum Inhalt springen

Comeback der Wisente im Jura Sanftes Urrind – oder ein Wildtier zu viel?

Im Solothurner Jura soll der Wisent wiederangesiedelt werden. Das Urrind Europas hat hierzulande viele Freunde – und lässt bei anderen die Emotionen hochgehen.

Seine erste Begegnung mit einem frei lebenden Wisent hat Darius Weber Anfang der 1990er-Jahre in Polen. Der Wildbiologe ist im Wald von Bialowieza nahe der weissrussischen Grenze unterwegs, um Wölfe und Marderhunde zu beobachten und dokumentieren.

Plötzlich sieht er in 70 Metern Entfernung einen Wisent-Bullen, der ihm zunächst gehörige Angst einjagt. Von diesem Tag an beginnt Weber, in Bialowieza nach Wisenten Ausschau zu halten. In ihm reift ein Gedanke: Frei lebende Wisente sollte es überall geben – auch in der Schweiz, wo sie früher ebenfalls heimisch waren.

Fünf Wisente im Schweizer Wald

Seine Vision ist fast 30 Jahre später Realität geworden: Auf der «Sollmatt», einer weitläufigen Waldlandschaft hinter der ersten Jurakette im solothurnischen Bezirk Thal, leben seit November fünf junge Wisente auf 50 Hektaren in Halbfreiheit.

Schritt für Schritt zur Auswilderung

Box aufklappen Box zuklappen

Das Wisent-Projekt im Bezirk Thal im Solothurner Jura ist auf zehn Jahre ausgelegt: Zwei Jahre lang dürfen sich die Tiere auf einem eingezäunten Gelände von 50 Hektaren aufhalten, danach wird ihr Bewegungsradius auf 100 Hektaren erweitert.

In dieser Zeit sollen diverse wissenschaftliche Untersuchungen die Schädlichkeit der Tiere klären, zum Beispiel ihren Einfluss auf die Waldverjüngung oder auf landwirtschaftliche Weiden.

Das Ziel des Vereins Wisent Thal ist, dass der Bund nach fünf Jahren die Entfernung des Geheges bewilligt und nach weiteren fünf Jahren die Wisente zu Wildtieren erklärt.

Darius Weber, inzwischen 65 und pensioniert, freut sich sehr: «Es ist unglaublich – ein wichtiger Schritt zum Ziel, auf das wir jahrelang hingearbeitet haben.»

«Wir», das ist der Verein Wisent Thal, die Trägerschaft des Projekts im Solothurner Jura.

Wildtier-Widerstand

Der vor 100 Jahren praktisch ausgerottete Wisent hat in der Region aber nicht nur Freunde. Vor allem die Landwirte der Region stellten sich von Anfang an quer: Man könne sich nicht vorstellen, ein weiteres «exotisches» Wildtier – dazu noch von dieser Grösse – ertragen zu müssen, so der Solothurner Bauernverband.

Die Kulturlandschaft leide schon unter den Schäden der Wildschweine, bald komme noch der Hirsch in die Gegend, von Raubtieren wie Luchs und Wolf ganz zu schweigen.

Um das Auswilderungsprojekt in Thal zu stoppen, ging der Bauernverband bis vor das Bundesgericht. Dieses wies die Beschwerde diesen Sommer ab.

Wie viel Wildtier verträgt die Schweiz?

Der Lebensraum von Wildtieren ist in der Schweiz durch das Jagdgesetz des Bundes geregelt. Grundsätzlich gilt: Ein Tierbestand muss seinem Lebensraum angepasst sein. Aber: «Der Einfluss des Menschen ist hier begrenzt», sagt Fabian Bieri, Präsident der Konferenz der kantonalen Jagd- und Fischereiverwalter.

Ein Wisent schaut neugierig in die Kamera, im Hintergrund Herbstlandschaft
Legende: Auch im deutschen Siegen-Wittgenstein gab es ein Wisent-Auswilderungsprojekt. Es scheiterte wegen der entstandenen Waldschäden. Keystone/Anthony Anex

Durch Regulierungsmassnahmen wie der Jagd könne man höchstens versuchen, die Bestände zu überwachen und einigermassen zu «managen», damit sich die Landschaftsschäden in Grenzen hielten. «Die Schweiz verträgt wahrscheinlich viele Wildtiere», sagt Bieri, «aber wie viele genau – das lösen die Tiere selbst.»

Wildtiere früher kurz vor der Ausrottung

Box aufklappen Box zuklappen

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Schweiz mit Ausnahme von einigen Reh-Restbeständen praktisch keine Wildtiere mehr. «Während der entbehrungsreichen Kriegsjahre wurde viel gewildert, und die Wildtiere verschwanden», sagt Fabian Bieri, Präsident der Konferenz der kantonalen Jagd- und Fischereiverwalter.

Ab den 1950er-Jahren wurden Wildtiere entweder gezielt wieder angesiedelt (etwa Steinböcke oder Gämse), oder sie wanderten von sich aus allmählich wieder in die Schweiz ein.

Dieser Aufbau-Prozess ist noch immer im Gang, wie Bieri am Beispiel des Rothirsches erklärt: «Dieser ist erst jetzt wieder im Begriff, seinen Lebensraum hierzulande zu erobern.» Im Alpenbogen sei der Hirsch schon recht zahlreich präsent, jetzt ziehe er auch ins Mittelland und gegen den Jura.

Mit dieser Haltung sieht Bieri auch «Problemwildtiere» wie den Wolf nüchtern: Dass aus Italien oder vom Norden weiterhin Wölfe in die Schweiz einwanderten, bedeute, «dass es bei uns immer noch Lebensraum gibt für die Tiere.» Gäbe es diesen nicht, würden sie sich hier auch nicht ausbreiten.

Eine Frage des Schadens

Der Wisent ist im Unterschied zum Wolf und anderen Wildtieren nicht von allein in die Schweiz gekommen. Hierzulande hat das Urrind nur eine Chance, wenn es «tragbar» ist: Der Einfluss der Wisente auf die Kulturlandschaft darf ein erträgliches Mass an Schäden nicht überschreiten.

Initiant Darius Weber, der heute im Hintergrund wirkt, ist zuversichtlich, was die spätere Auswilderung betrifft. Andere Länder hätten es vorgemacht: «In Polen sind die Menschen stolz auf ihre wildlebenden Wisente.»

Urrinder würden nicht einfach geduldet, weil sie von Gesetzes wegen geschützt seien: «Diese Tiere werden geliebt.»

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 22.11.2022, 09:03

Meistgelesene Artikel