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Sehnsucht nach Natur Das durchtechnisierte Leben treibt die Menschen in die Natur

Die Menschen übernachten in Baumhütten, kaufen Bioprodukte und lesen die «Landliebe»: der Philosoph Markus Huppenbauer über unsere Sehnsucht nach Natur.

SRF: Gibt es eine neue Naturbewegung?

Markus Huppenbauer: Nein, ich habe eher den Eindruck eines Déjà-vu. Die Naturbegeisterung schwappt seit über 200 Jahren immer wieder über moderne Gesellschaften hinweg. Kaum ein Bereich des Lebens wird dabei ausgelassen: Ernährung, Kleidung, Gesundheit, Freizeit, ja sogar Technologie und Religion werden näher an etwas herangebracht, was man Natur nennt.

Zur Person

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Legende: ZVG

Der Philosoph und Theologe Markus Huppenbauer ist Professor für Ethik an der Universität Zürich und dort auch Direktor des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik.

Die Älteren unter uns haben das letztmals in den 1960er-Jahren erlebt. Mit dem Aufkommen der ökologischen Frage entstanden gesellschaftliche und politische Strömungen, die eine radikale Transformation forderten: Der Mensch sollte sich ganz mit der Natur identifizieren. Nur so sei es letztlich möglich, die ökologischen Probleme unserer Gesellschaft zu meistern.

Also neuer Wein in alten Schläuchen?

Neu scheint mir an den aktuellen Strömungen, dass sie weniger politisch sind als vor 50 Jahren. Es geht nicht mehr darum, die Welt zu retten. Ästhetische, psychologische und spielerische Aspekte stehen im Vordergrund.

Ich habe zudem den Eindruck, dass die schroffe Entgegensetzung von Natur und technischer Zivilisation, wie sie in den Ökobewegungen der 1960er-Jahre anzutreffen war, nicht mehr so wichtig ist. Die neuen Bewegungen sind urban und technikaffin.

Natur ist eine Art Fluchtpunkt, um dem durchtechnisierten und organisierten Leben zu entkommen.

Dennoch sucht gerade die urbane Bevölkerung auch den «Ausstieg», liest «Landliebe» oder «Walden», pflanzt selber Gemüse an.

Wir leben in einer Zivilisation, die sich weit von der ursprünglichen Natur entfernt hat. Technologien haben in allen Bereichen des Lebens zu einer früher nicht einmal vorstellbaren Herrschaft über die Natur geführt. «Natur» ist vor diesem Hintergrund eine Art Fluchtpunkt, um dem durchtechnisierten und organisierten Leben zu entkommen.

Was fehlt in diesem Leben?

Wildheit, Ursprünglichkeit und Spontaneität. Der Erfolg von Bioprodukten, Naturlabels und Outdoorprodukten in unseren Kaufhäusern zeigt, dass die Sehnsucht danach auch im Mainstream der Wirtschaft angekommen ist.

Charles Foster

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Legende: SRF

Er lebte als Dachs, Otter, Fuchs, Mauersegler und Rothirsch, ass Würmer, markierte sein Revier mit Kot. Der Anwalt und Tierarzt Charles Foster liess nichts unversucht, um sich ins Tier einzufühlen – und fand seine eigene Wildheit. In der Sternstunde Philosophie spricht er über sein Leben als Tier.

Der britische Tierarzt und Ethiker Charles Foster hat nicht nur im Wald gelebt, sondern sich auch als Tier versucht: Er schwamm wie ein Otter im Fluss, baute sich einen Dachsbau, liess sich als Rothirsch von Bluthunden jagen. Hat auch das Tradition: mit dem Tier verschmelzen zu wollen?

Ja, durchaus. Analoge Konzepte kennen wir beispielsweise aus dem Schamanismus. Es ist eine spannende philosophische Frage, wie man derartige Phänomene verstehen soll. Handelt es sich um voraufklärerische Illusionen, die heute nur noch von intellektuell verschrobenen Romantikern verfolgt werden?

Oder kommen hier Wahrnehmungen und Erfahrungen ins Spiel, die zwar nicht ins Setting moderner Gesellschaften passen, aber doch mit einer gewissen Widerborstigkeit daran erinnern, dass jenseits der uns bekannten Welt noch ganz andere Welten liegen könnten?

Was denken Sie?

Ich bin gespalten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich jemand ernsthaft eine Rückkehr zu archaischen Gesellschaften und deren Form von Verbundenheit mit einer letztlich unberechenbaren Natur wünscht. Die technische Beherrschung der Natur geht zwar mit einer Distanzierung einher – aber eben auch mit Annehmlichkeiten.

Charles Foster hat sich weder in der Gemeinschaft der Otter noch der Dachse dauerhaft niedergelassen. Ich kann mich des Gedankens nicht ganz erwehren, dass Natur auf diese Weise zu einer Art Erlebnispark auch für Intellektuelle wird.

Foster schreibt, eine schamanische Transformation sei möglich: Man kann für kurze Augenblicke zum Tier werden. Hat er recht?

In gewisser Weise schon: Biologisch gesehen sind Menschen ja Tiere. Zur spezifischen Begabung der Menschen gehört es, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Warum soll das nicht auch mit Tieren möglich sein? Allerdings scheint mir das Täuschungspotenzial hier besonders gross.

Warum?

Kommunizieren wir mit Menschen, haben wir solide mentale und körperliche Kommunikationstechniken entwickelt, um einigermassen zu verstehen, was der andere meinen könnte. Wie will man das Gelingen dieser Kommunikation mit Tieren überprüfen?

Während Foster seine Erlebnisse publikumswirksam verkauft und beklatscht wird, werden sich die richtigen Otter, Dachse und Rothirsche ihren Teil dazu denken.

Manch einer wünscht sich wieder etwas mehr Risiko, Gefahr und Wildnis.

Foster schreibt, dass wir alle etwas Wildes, Urwüchsiges in uns tragen. Ist die Sehnsucht nach der Natur auch eine Sehnsucht nach einer verdrängten Seite in uns?

Kulturen haben immer versucht, die «Bestie in uns» zu zähmen mithilfe von Geschichten, Ritualen, Vorschriften und Techniken. Die Domestizierung des Menschen geht aber nicht ohne Kosten vonstatten: Ruhe und Sicherheit können langweilig werden. Manch einer wünscht sich wieder etwas mehr Risiko, Gefahr und Wildnis.

Gerade in den so genannten Risikosportarten findet das einen schönen Ausdruck. Mit allen Mitteln moderner Technik ausgerüstet, setzen sich Menschen für Minuten, Stunden, Tage oder gar Wochen extremen Risiken aus – und fühlen sich dabei besonders lebendig. Was Foster macht, ist eine neue Version dieses Spiels.

Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 04.06.2017, 11:00 Uhr

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