Ein Buchhalter schreibt jeden Monat Reportings, die er einem grösseren Verteiler zukommen lässt. Einmal fehlt ihm die Zeit, um diese Berichte zu schreiben. Keine Reaktion der Adressaten. Er lässt es also weiterhin bleiben. Nach Monaten meldet sich einer der Adressaten: Wo denn das Reporting bleibe?
Der Buchhalter fragt zurück: «Was machst du jeweils damit?» Antwort: «Ich lege es ab.» Das ist ein Beispiel für eine der sinnlosen Aufgaben, wie sie David Graeber in seinem Weltbeseller «Bullshit-Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit» beschrieb.
Graebers Grundaussage: Die Hälfte aller Jobs in der westlichen Wirtschaft seien «Bullshit-Jobs», also sinnlose, nutzlose Beschäftigungen, die weder den Mitarbeitenden noch den Unternehmen etwas bringen.
Der Bürokratie den Kampf angesagt
In der «Sternstunde Philosophie» erklärte er 2016 , dass die Einschätzung, ob eine Arbeit ein Bullshit-Job sei, auf der Ansicht der Mitarbeitenden selbst beruhe.
«Die meisten Firmenanwälte finden, wenn sie verschwinden würden, wäre die Welt nicht schlechter», sagte Graeber. Oder: «Telemarketing-Abteilungen haben Firmen nur, weil andere es auch haben.»
Die meisten Bullshit-Jobs fänden sich aber in der Firmenbürokratie: Mittlere Manager, die Meetings organisieren und Reports schreiben.
Andere Leute wiederum organisieren Meetings, um diese Reports zu lesen, und es wird gewetteifert, wer über mehr Mitarbeiter verfügt, so Graeber. «Niemand von denen tut wirklich etwas!»
Es begann beim Smalltalk
Sich mit diesen leeren Tätigkeiten zu befassen, darauf hätten ihn Partys gebracht, sagt David Graeber. Gefragt, was sie täten, hätten ihm viele Leute geantwortet: «Oh, nichts Wichtiges, ich gehe einfach ins Büro.»
«Das passierte so häufig. Ich fragte mich: ‹Wie viele Leute gehen jeden Tag zur Arbeit und denken, ihr Job ist nutzlos?› Dem Chef gegenüber oder öffentlich würden sie das natürlich nie zugeben», so Graeber.
Er wollte, dass die Leute ihm von ihren sinnlosen Jobs erzählen. «Wie kann man würdevoll arbeiten, wenn man den ganzen Tag nichts Rechtes zu tun hat? Und das ein ganzes Leben lang?».
Das war die zentrale Frage für David Graeber, der aus einer Arbeiterfamilie stammte. Die sogenannt gewöhnlichen Leute standen für ihn im Fokus.
Je relevanter der Job, desto schlechter der Lohn
Der Professor der London School of Economics stellte auch fest, «dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt».
Beim Pflegepersonal und Müllarbeitern werde gespart, während die «Bullshit-Jobs» aufgeplustert und aufgestockt würden: Firmenanwälte, Lobbyisten, Public-Relations-Personal, Unternehmensberater, Consultants, Broker.
Sie sässen stundenlang in Besprechungen, in denen es nicht um Wichtiges, sondern einzig um den Stellenwert eines Managers in der Firma gehe. Reine Bürokratie.
Immerhin könnten die Millionen von «Bullshit-Jobbern» ihre Familien ernähren. Doch sinnlose Arbeit zu verrichten, führe zu moralischem und seelischem Elend.
37 Prozent der Arbeitnehmenden in Grossbritannien und den Niederlanden gaben übrigens in einer Umfrage an, nicht recht zu wissen, worin ihre Arbeit besteht und im Job unglücklich zu sein.
Auf diese Irrwege des Wirtschaftssystems hingewiesen zu haben, ist das bleibende Verdienst von David Graeber. Er ist am Mittwoch mit 59 Jahren in einem Spital in Venedig gestorben.