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Der Blick zurück Wie Seuchen unsere Städte verbesserten

Dagegen ist das Coronavirus fast eine Lappalie: Seuchen wie Cholera oder die Pest haben einst Massensterben ausgelöst und Städte entvölkert – aber auch Fortschritte gebracht. Sie haben Obrigkeiten gezwungen, Wasser- und Abwassersysteme zu entwickeln.

Seit Jahrtausenden gehören ansteckende Krankheiten zu den Bedrohungen der Menschheit. Aber die Seuchenzüge schieben auch Veränderungen an: Kanalisationen werden gebaut, Gesundheitsprogramme und Wohnreformen aufgesetzt. Vergangene Seuchenzüge haben unser Leben und unsere Städte geprägt.

Zugang zu sauberem Wasser

Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist die Pest ein ständiger Begleiter der Menschen Europas. Die grossen Pestzüge wüten im späten Mittelalter bis zur frühen Neuzeit vor allem und zuerst in Städten.

Für die Entwicklung mittelalterlicher Städte ist eine gute Wasserversorgung zentral. Nach Pestzügen bemühten sich deshalb die Stadtverwaltungen, den Zugang zu Wasser zu verbessern, sagt der Umwelt- und Stadthistoriker Dieter Schott.

Dieter Schott

Umwelthistoriker

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Dieter Schott war Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Stadt- und Umweltgeschichte an der Technischen Universität Darmstadt und ist seit kurzem im Ruhestand. Urbanisierung und Stadtforschung gehört zu seinen Kerngebieten. Er ist Autor mehrerer Publikationen zur europäischen Stadtgeschichte. Sein Buch «Europäische Urbanisierung (1000-2000). Eine umwelthistorische Einführung» ist 2014 bei UTB erschienen.

Während die Besitzer grösserer Häuser eigene Brunnen besitzen, stellen Obrigkeiten in ärmeren Vierteln Zieh- und Schöpfbrunnen zur Verfügung.

So etwa in Zürich: Die Schöpfräder auf den Limmatbrücken werden von Anwohnern genossenschaftlich genutzt und betrieben. Gemeinsam unterhält und reinigt man die Brunnen. Und man kontrolliert sich gegenseitig.

ein Gemälde einer alten Brücke und einem Wasserrad
Legende: Dank dem Maler Hans Leu d. Ä. gibt es eine Darstellung der Stadt Zürich Ende des 15. Jahrhunderts, welche die öffentliche Wasserversorgung zeigt. 2013 Roland Fischer, Zürich (Switzerland)

Die Brunnentechnik wird verfeinert, Brunnenmeister werden zu hoch angesehenen Spezialisten. Die Wasserversorgung sei der «Prüfstein für die gute Amtsführung einer Stadtregierung», so Dieter Schott.

Städte im Aufschwung

Das pestbedingte Massensterben führt gemäss Schott zu paradoxen Entwicklungen. Die Überlebenden des «Schwarzen Todes» haben bessere wirtschaftliche Bedingungen: Viele Häuser stehen leer und können daher günstiger erworben werden. Gesellen und Handwerker erhalten bessere Löhne, weil sie gesucht sind.

Die Angst vor der Pest

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Aus Angst vor Seuchen wurden stets allerhand religiöse und medizinische Wundermittel propagiert, Legenden und Mythen gesponnen, Sündenböcke ausgemacht. Die Fremdenfeindlichkeit – Verfolgung von Zuwanderern und religiösen Minderheiten – nimmt sofort zu. «Pestprogrome» werden die Judenprogrome im 14. Jahrhundert auch genannt. Den Juden wurde vorgeworfen, sie hätten Brunnen vergiftet und dadurch die Pest ausgelöst.

Auch die Vorstellung, dass Gott die Menschen für ihre Sünden bestraft, war weit verbreitet. Gruppen von Selbstgeisslern und Flagellanten zogen sich selbst kasteiend durch Dörfer und Städte, um für diese Sünden zu büssen. Sie sorgten so dafür, dass sich die Seuche weiter verbreitete.

Solche Reaktionen seien oft zu beobachten, bevor die eigentliche Epidemie eine bestimmte Region erreichte, sagt Dieter Schott. Er spricht deshalb von einer «antizipierten Heimsuchung».

Die entleerten Städte versuchen, mit Schulen und Universitäten Menschen anzulocken. Insgesamt führt die Pest mittelfristig zu einem Aufschwung der Städte. Auf der mentalen Ebene kommt es zu einer Orientierung der Menschen auf das Diesseits: «Wenn sie schon sterben müssen, dann wollen sie wenigstens davor gut leben», sagt Schott.

Seuchen treffen die Schwachen

Ansteckende Krankheiten sind in der Regel nicht blind. Das bedeutet: Sie treffen meist die gesundheitlich Schwächeren in der Gesellschaft – und jene, die sich ein gesundes Leben nicht leisten können.

eine schwarz-weiss Fotografie eines Krankenhauses mit gefüllten Betten
Legende: Vom Armenviertel in das Marseiller Krankenhaus: Cholera beherrschte die Gesellschaft im 19. Jahrhundert. imago images / Leemage

Sie raffen anfällige Menschen dahin, weil deren Abwehrkräfte angeschlagen sind, wegen prekärer Lebensbedingungen, fehlendem Zugang zu sauberem Wasser oder Hungersnöten. Dies gilt besonders auch für die Cholera-Epidemien während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.

Cholera in den Arbeitervierteln

Den zeitgenössischen Medizinern war die Übertragung der Cholera ein Rätsel. Die Krankheit breitet sich in den Arbeitervierteln von Industriestädten aus. Dort, wo viele Menschen in engen, dunklen Räumen auf feuchtem Boden leben. Dort, wo es kaum Latrinen und sauberes Wasser gibt – stattdessen Gestank und Hunger.

Aufgrund dieser Beobachtungen erhält die «Miasmen»-Theorie Aufschwung: Mediziner sind überzeugt, dass Feuchtigkeit, Ausdünstungen und Gestank in der Luft die Menschen krank machen. In den betroffenen Vierteln wird der Zustand der Plätze und Wohnungen kartografiert.

So entsteht in Grossbritannien der Ansatz einer umfassenden «public health», einer öffentlichen Gesundheitsvorsorge. In London versucht man zunächst, den Umgang mit Armut und Krankheiten auf technische Sanierungsprojekte zu reduzieren.

eine historische Aufnahme von London, wo ein Abwasserkanal gebaut wird
Legende: Mit technischer Innovation gegen Krankheiten: Die Londoner Behörden vertieften 1845 die Kanalisation an der Fleet Street. imago images / United Archives International

Sinnvolle Reformen trotz falscher Theorien

Die Behörden legen feuchte Wohngebiete trocken und bauen Abwasserkanäle, um Fäkalien aus dem Wohnumfeld zu entfernen. Auch der Zugang zu frischem Wasser wird verbessert. Man tut also Sinnvolles, aber aufgrund einer falschen wissenschaftlichen Theorie, wie Dieter Schott erläutert. Weitergehende soziale Reformen hingegen bleiben aus oder werden zurückgestellt.

Der Mediziner Robert Koch entdeckt 1884 das Cholerabakterium. Erst jetzt wird klar: Die Krankheit verbreitet sich weder über die Luft noch durch übel riechende Feuchtigkeit, sondern über das Trinkwasser. So wird Robert Koch als einer Art «Krisenmanager» nach Hamburg entsandt. Dort wütet 1892 eine Choleraepidemie besonders heftig.

Fetisch «Hygiene»

In europäischen Städten werden nun nicht nur Wasserversorgung und Abwasserkanalisationen im grossen Stil vorangetrieben. Die Hygiene wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum zentralen Fetisch und beherrscht die gesellschaftliche Debatte.

eine alte Illustration von Männern, die eine Wohnung reinigen
Legende: «Wie wir uns gegen Cholera verteidigen» – so die Überschrift dieser Illustration von 1905, welche Polizeiangestellte beim Desinfizieren einer Wohnung zeigt. imago images / KHARBINE-TAPABOR

Zahlreiche Handbücher definieren Vorgaben, wie Schlachthöfe, Schulhäuser oder öffentliche Toiletten auszusehen haben. Die neuen Hygiene-Vorstellungen diktieren Vorgaben für Wohnreformen: Licht, fliessendes Wasser und Aborte sollen die Verbreitung ansteckender Krankheiten verhindern.

Alltagspraktiken werden verschwinden

Und heute? Noch ist das Wissen zur Übertragungsart, Impfung und Behandlung von Covid-19 lückenhaft. Doch mit der Pandemie ist der Gesundheitsschutz durch Hygiene innerhalb kürzester Zeit allgegenwärtig geworden. Weltweit werden Hände gewaschen, desinfiziert, man trägt Schutzmasken und übt Distanz zu den Nächsten und in der Öffentlichkeit.

Zahlreiche Alltagspraktiken werden verschwinden, neue entstehen, ist Historiker Schott überzeugt. «Die Küsschen-Begrüssung in Europa ist historisch gesehen auch erst etwa 30 Jahre alt. Das neue Distanzhalten verändert das öffentliche Leben. Die Gefahr ist, die Anderen sofort als potenzielle Gefahr wahrzunehmen.» Zu welchen Innovationen die Covid-19-Pandemie führt, wird im Rückblick zu beurteilen sein.

SRF 1, Sternstunde Religion, 19.4.2020, 11:55 Uhr

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