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Gesellschaft & Religion «Der Nächste bitte!»: Mein Zahnarzt, Hölderlin und ich

Die wenigsten gehen gerne zum Zahnarzt, und mancher hat – zumindest als Kind – auch schon mal zugebissen. Dabei könnten wir froh sein, dass sich jemand um unsere Zähne kümmert: Senator Buddenbrook aus Thomas Manns Werk verstarb an einem Zahn und in Hölderlins Mund muss es gruselig ausgesehen haben.

Viele von uns kennen diese Angst. Sie treibt den Schweiss auf die Stirn, lässt das Herz rasen und beschert schlaflose Nächte. Und es stimmt ja auch: Der Gang zum Zahnarzt ist kein leichter. Man sitzt mit seiner tiefschwarzen Karies, dem pochenden Weisheitszahn oder einem gut gefüllten Abzess ängstlich im Wartezimmer und weiss genau: Es wird furchtbar werden! Skalpell, Zange, Bohrer, Spritze? Da werden Fluchtinstinkte wach!

Zum Autor

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Detlef Berentzen (Pseudonym: Dr. Feelgood) ist Journalist und Schriftsteller in Berlin. Er war mehrere Jahre Redaktor der deutschen Tageszeitung «taz», seit 1987 schreibt er als freier Autor für verschiedene Zeitung und Zeitschriften, ist aber auch für Radio und Fernsehen tätig.

Ich weiss genau, wovon ich schreibe, mir ging es als Kind nicht anders: Damals musste ein Junge noch stark sein und Indianer kannten keinen Schmerz. Also ging ich nach der Schule alleine zum Zahnarzt. Schwer wurden meine Schritte, irgendetwas pochte hinter den Schläfen, immer wieder blieb ich stehen und doch sass ich irgendwann in der Praxis, roch diese widerliche Mischung aus Desinfektionsmitteln und Medikamenten, würgte ein wenig und wartete auf die Sprechstundenhilfe: «Der Nächste bitte!»

«Eines Tages biss ich zu»

Wie ein zum Tode Verurteilter schleppte ich mich zum Behandlungsstuhl, setzte mich und blickte entsetzt auf ein altes Doriot-Gestänge, hörte wie der Elektromotor eingeschaltet wurde. Ich sah, wie sich der Riemen am Gestänge in Bewegung setzte und den Bohrer antrieb, öffnete den Mund. Und schon spürte ich den Schmerz. Eines Tages, als der Doktor per Finger eine Füllung kontrollieren wollte, biss ich einfach zu. So fest ich konnte. Das gab jede Menge Ärger, aber ich konnte unbehandelt nach Hause gehen. Und wieder meine Bücher lesen. Dabei fand ich heraus, dass es selbst Wilhelm Busch in puncto «Zahnschmerz» nicht anders ging als mir:

Kaum wird der erste Stich verspürt,

kaum fühlt man das bekannte Bohren,

das Zucken, Rucken und Rumoren,

und aus ist's mit der Weltgeschichte,

vergessen sind die Kursberichte,

die Steuern und das Einmaleins,

kurz, jede Form gewohnten Seins,

die sonst real erscheint und wichtig,

wird plötzlich wesenlos und nichtig …

Hölderlin, dessen Zähne und der Dichtermut

Zahnarzt versucht, Frau zu betäuben, Zofe hält sich die OHren z, Hund bellt, Mann versucht, sie zu beruhigen, ein anderer schliesst die Fenster ...
Legende: «Er muss raus!» – eine doppelseitige Illustration aus der Illustrierten «Die Gartenlaube» von 1895. Wikimedia

Im Laufe der Jahrzehnte habe ich dann begriffen, dass es – dental gesehen – ein Glück ist, in der heutigen Zeit zu leben. Da gab es doch einst in Paris diese obszöne Ausstellung «L’Art Dentaire», die zeigte, wie die Zahnreisser des 16. Jahrhunderts ihre angststarren Patienten ohne jede Betäubung bis zur Ohnmacht malträtierten.

Und irgendwann wurde mir auch klar, dass ein Dichter wie Friedrich Hölderlin, geboren im Jahre 1770, nicht nur wunderbare Verse zum Thema «Dichtermut» verfasst hatte, sondern sich auch extrem mutig den zeitgenössischen Dentisten ausliefern musste.

Als ich einen Medizinhistoriker nach des Dichters Zähnen und deren Zustand fragte, vermutete der nur: «ziemlich gruselig» und verwies auf die fehlende Anästhesie, fehlende Hygiene und letztendlich darauf, dass man sich seinerzeit überall vor Zahnbehandlern «massiv gefürchtet» hatte.

Senator Buddenbrook starb an einem Zahn

Derlei massive Furcht fand ich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Thomas Mann’schen Werk bei den «Buddenbrooks» schon nicht mehr. Die Figur des Senators Buddenbrook gab sich beim Zahnarzt – ob einer anstehenden Extraktion ohne Betäubung – ganz und gar nicht ängstlich. Doch letztlich tobte der Schmerz auch «in seinem misshandelten Kiefer». Folgenreich, wie Thomas Mann resümmierte: «Senator Buddenbrook war einem Zahne gestorben, hiess es in der Stadt. Aber Donnerwetter, daran starb man doch nicht!»

Heute stirbt man nicht mehr an einem Zahn. Dennoch ist die Angst vor dem Zahnarzt immer noch weit verbreitet – trotz modernster Technik, wertvoller Prophylaxe und hervorragender Anästhesie. «Zahnarztphobie» ist sogar als psychosomatische Krankheit anerkannt und wird speziell, auch mit Hypnose, behandelt.

Doch bei vielen Patienten bleibt sie – als historisches Erbe – erhalten: diese Angst vor dem Zahnarzt, dem Bohrer, der Zange, dem Schmerz. Und doch ist sie besiegbar: Ich zum Beispiel habe vor vielen Jahren meine Zahnärztin geheiratet. Und freue mich noch heute auf jede Behandlung.

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