Ulrich Wille Junior, Sohn des gleichnamigen Schweizer Generals aus dem Ersten Weltkrieg, hegte wie sein Vater Sympathien für deutsch-nationale Anliegen. So hatte sich der Offizier der Schweizer Armee mit dem späteren Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess angefreundet, der 1922 ein Semester an der ETH eingeschrieben war.
Bald erschien Hess einmal pro Woche zum Mittagessen in der prunkvollen Villa Schönberg der Willes in Zürich-Enge und pries dabei die Leistungen des neuen Parteichefs, eines gewissen Adolf Hitlers.
Ein Plan aus Geldnot
Wille Junior reiste schliesslich zu NSDAP-Veranstaltungen nach München und lernte Hitler persönlich kennen. Und da in Deutschland Hyperinflation herrschte und die Partei in Geldnot war, lud er ihn nach Zürich ein, damit er vor gleichgesinnten und gutbetuchten Schweizern eine Rede halten und Spenden sammeln konnte.
Das Schweizer Generalkonsulat in München stellte Hitler ein Visum für eine Reise «zu Studienzwecken» aus – politische Aktivitäten waren ihm ausdrücklich verboten. Dem Aussenministerium in Bern wurde die Erteilung des Visums jedoch erst mitgeteilt, als Hitler die Schweiz längst wieder verlassen hatte.
Die Rede gegen den Kommunismus
Am 30. August 1923 hielt der 34-jährige Hitler eine Rede während eines Abendessens in der Villa Schönberg. Er betonte, dass eine Gesundung Deutschlands nur möglich sei, wenn «rücksichtslos dreingefahren werde». Antisemitische Äusserungen finden sich in der Rede dagegen nicht ( hier nachzulesen ).
Dafür schürte Hitler – offenbar erfolgreich – die Angst vor dem Kommunismus. «Ein Mittelding zwischen der Diktatur des Proletariats oder der Diktatur von rechts gibt es nicht», schloss der kommende Diktator seinen Vortrag. Generalsgattin Clara Wille war beeindruckt und schrieb später in ihr Tagebuch: «Der ganze Mensch bebt, wenn er spricht; er spricht wundervoll.»
Ihrem Mann schien Hitler weniger gefallen zu haben: «Um Gottes Willen, warum muss der Mann die ganze Zeit so schreien?», soll der General nach dem Treffen gefragt haben.
Spenden für den versuchten Staatsstreich
Laut Angaben der bayrischen Polizei, die den einschlägig vorbestraften Hitler beschattete, beliefen sich die Spenden auf mindestens 33’000 Franken, nach heutiger Kaufkraft sind das über 200'000 Franken.
Mit dem Geld wurde drei Monate später der misslungene Staatsstreich mitfinanziert: Der sogenannte Bürgerbräu-Putsch brachte Hitler eine Gefängnisstrafe ein.
Die historische Aufarbeitung
Hitlers einziger Besuch in der Schweiz wurde erst 1978 durch die Forschungen des Aargauer Historikers Willy Gautschi einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 1987 thematisierte ihn der Autor und Journalist Niklaus Meienberg in seinem Buch «Die Welt als Wille und Wahn».
Die Abschrift der Rede hat schliesslich der Historiker Alexis Schwarzenbach im Nachlass von Alfred Schwarzenbach gefunden, dem Ehemann seiner Urgrossmutter Renée Schwarzenbach-Wille, und sie 2006 erstmals veröffentlicht.
Etwa drei Dutzend Personen sollen den Ausführungen Hitlers damals gelauscht haben. Wer alles anwesend war, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob Fotos von dem Anlass existieren: Alle zugänglichen Quellen sind inzwischen aufgearbeitet.
Nur die Familie Wille hat sich bis heute mehrfach geweigert, ihr Archiv der Wissenschaft zu öffnen. Der Wille-Clan lasse nur jene Historiker an den Speck, die dem General und seiner Familie günstig gesinnt seien, mutmasst Meienberg in seinem Buch.
Gelöschte Passage in der Museumsgeschichte
Die Villa Schönberg gehört heute der Stadt Zürich. Seit 1978 ist sie Teil des Museums Rietberg, derzeit ist dort ein Teil der Museumsverwaltung untergebracht. Stadtpräsidentin Corinne Mauch nannte das 1850 errichtete Gebäude einmal «das vielleicht schönste Verwaltungsgebäude der Stadt».
Zu Beginn der Recherchen für diesen Artikel Ende Juli sind weder auf den Websites der Stadt Zürich noch der des Museums Rietberg Hinweise auf den Besuch zu finden.
Auf Anfrage teilt die Medienstelle des Museums mit, dass ein Text über die Geschichte der Villa Schönberg einschliesslich einer Erwähnung von Hitlers Besuch ab 2015 auf der Webseite enthalten war, im Zug der Neugestaltung des Webauftritts vier Jahre später jedoch wieder entfernt wurde.
Kurz nach der Anfrage Anfang August wurde der 2019 gelöschte Abschnitt über die Geschichte der Gebäude, einschliesslich einer kurzen Erwähnung von Hitlers Besuch, wieder auf der Museums-Website aufgeschaltet .
Ausserdem teilte das Museum mit, der Besuch werde in einer Publikation erwähnt, die im Museumsshop erhältlich sei. Die Frage, warum in der Online-Biografie von Eduard von der Heydt, dem Gründersammler des Museums Rietberg, kein Hinweis auf dessen Nazi-Vergangenheit enthalten sei, blieb dagegen unbeantwortet.
Zürichs Suche nach einer «Erinnerungskultur»
Die Präsidialabteilung der Stadt Zürich verwies kurze Zeit später auf die inzwischen aktualisierte Webseite des Museums. Und auf eine von der Stadt in Auftrag gegebene, über 100 Seiten lange Studie zur kommenden Strategie im Bereich «Erinnerungskultur», welche voraussichtlich ab 2025 umgesetzt werden soll. Bis dahin sei die Stadt «zurückhaltend mit der Umsetzung von erinnerungskulturellen Projekten».
Wenig später folgt dann die Information, man habe nun auch die entsprechende Information über die Geschichte der Villa auf der städtischen Website von Grün Zürich mit einem Hinweis auf den Hitler-Besuch ergänzt. Es handelt sich um drei dünne Sätze .
Man lässt sich Zeit
Der nachfolgende Abschnitt, der sich mit einer vierbogigen Tuffsteingrotte befasst – offenbar ein Juwel der Gartenbaukunst – ist über dreimal länger. Ein paar Tage später weist Grün Zürich noch auf ein Infoblatt hin , in dem der Besuch ebenfalls erwähnt sei.
«1923: Adolf Hitler wird zu einem Essen in die Villa Schönberg eingeladen», heisst es dort allerdings nur. Hitlers Rede und die Spendensammlung werden nicht erwähnt. Mit einer möglichen Überarbeitung wolle man sich bis zum Vorliegen der Erinnerungsstrategie Zeit lassen, wird mitgeteilt.
Dass Handlungsbedarf besteht, haben die Behörden offensichtlich erkannt. Doch die Stadt Zürich tut sich auch 100 Jahre später schwer mit der historischen Aufarbeitung des einzigen belegten Besuchs des späteren Diktators in der Schweiz.