Täglich kommen mehr Menschen aus der Ukraine in den westlichen Staaten Europas und in der Schweiz an. Sie haben vielleicht in Bunkern und Bahnhöfen ausgeharrt. Viele mussten befürchten, beschossen zu werden. Der deutsche Traumaforscher Thomas Elbert erklärt, was solche Erfahrungen mit Kriegsopfern machen – und wie wir ihnen am besten begegnen.
SRF: Sie haben bisher nicht mit Geflüchteten aus der Ukraine gesprochen. Aber Sie haben über Jahre hinweg Kriegsopfer aus dem Kongo begleitet und behandelt. Wie geht es Menschen, die so viel Gewalt erlebt haben?
Thomas Elbert: In Afrika sagen wir: «Jeder trägt einen Rucksack seiner Belastungen mit sich rum». Jede schreckliche Erfahrung ist ein Stein mehr.
Jeder Mensch kann ein bestimmtes Gewicht tragen, bis es zu viel ist. Irgendwann ist es nicht mehr bewältigbar und man bricht zusammen. Dann folgen die psychische Funktionsunfähigkeit und körperliche Symptome.
Hilfsorganisationen schätzen, dass bis zu sieben Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen werden. Was brauchen sie, um mit dem Erlebten fertig zu werden?
Die meisten brauchen Sicherheit und Wahrheit. Denn die Menschen kommen aus schrecklichen Bedrohungsszenarien und sogenannten Deprivationssituationen. Sie hatten nicht genügend zu trinken oder zu essen.
Was brauchen sie, wenn sie hier sind?
In Mitteleuropa angekommen, sind sie sicher. Das muss man ihnen vermitteln. Und sie brauchen die Wahrheit. Oft sind Angehörige, Freundinnen, Bekannte in einem Kriegsgebiet zurückgeblieben. Wenn man Leute vermisst, ist man stets auf der Suche nach Informationen.
Deshalb müssen diese Informationen wahrheitsgetreu wiedergegeben werden. Das gilt für Leute, die noch in der Ukraine sind und wissen müssen, was reale Gefahren sind. Es gilt aber auch für diejenigen, die hier angekommen sind.
Um auf das Bild mit dem Rucksack zurückzukommen: Haben die Menschen, die jetzt aus der Ukraine zu uns kommen, ein Kriegstrauma?
Die meisten haben schlimme Dinge erlebt. Das ist eine Last, mit der sie zurechtkommen müssen. In der Regel können sie das auch, sofern sich diese Bedrohung nicht mit früheren schlimmen Erfahrungen vermischt.
Inwiefern können wir uns in dieses Leid hineinfühlen? Können wir noch lachen und Spass haben?
Es kann sich jeder und jede vorstellen, was es bedeutet, wenn ich fürchten muss, dass in meinem Haus eine Rakete einschlägt. Das ist sehr schlimm. Es hilft den Leuten jedoch nicht, wenn wir in Panik und Angst verfallen.
Bei uns gibt es diese Bedrohung nicht. Wenn Sie als Flüchtling aus einem Gebiet mit belastenden und dramatischen Erfahrungen kommen, wollen Sie nicht von einer Gesellschaft empfangen werden, die vor Trauer und Angst eingefroren ist.
Sie wollen dort auch wieder ein normales Leben beginnen können. Zu einem normalen Leben gehören auch das Fröhlich-Sein und Lachen.
Das Gespräch führte Katrin Becker.