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Zwangsarbeit im Nazireich «Die NS-Zwangsarbeit wurde lange bagatellisiert»

Eine Geschichte über Zwangsarbeit im Nazi-Deutschland gewinnt den Leipziger Buchpreis. Weshalb die Sklaven der Nazis lange vernachlässigt wurden, erklärt Historiker Cord Pagenstecher.

SRF: Man schätzt, dass über zwanzig Millionen Menschen aus allen besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs für die Deutschen Sklavenarbeit leisten mussten. Was war ihre Bedeutung für das NS-System?

Cord Pagenstecher: Angesichts der Einberufung fast aller deutschen Männer zur Wehrmacht hielten nur die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter die deutsche Kriegswirtschaft aufrecht. Ohne sie wäre die landwirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung ebenso zusammengebrochen wie die Rüstungsproduktion.

Zur Person

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Der promovierte Historiker Cord Pagenstecher arbeitet am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, vor allem zu Oral History, Digital Humanities und NS-Zwangsarbeit.

Grossunternehmen wie auch kleine Handwerksbetriebe, Kommunen und Behörden, aber auch Bauern und private Haushalte forderten immer mehr ausländische Arbeitskräfte an und waren so mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit. Das reichte von Siemens, Daimler über die Eisenbahn, die Stadtreinigung und die Krankenhäuser bis zum Bäcker, Bauern oder Pfarrer.

Die Freizeit nutzten sie zunächst, um ihr Überleben zu sichern.

Wie muss man sich die Bedingungen vorstellen, unter denen die Zwangsarbeiter schufteten?

Sendehinweis

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In «52 Beste Bücher» widmet sich am 26. März ab 11.03 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur dem Roman «Sie kam aus Mariupol» von Natascha Wodin.

Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Mutter, die von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt wurde. Für den Roman hat Wodin den Leipziger Buchpreis 2017 erhalten.

Die ausländischen Arbeitskräfte wurden in überfüllten Baracken, Scheunen oder Gaststätten eingepfercht. In den Lager- und Betriebskantinen wurden sie nur äusserst unzureichend verpflegt. Ohne Lebensmittelmarken konnten sie von ihrem geringen Lohn nichts zu essen kaufen und litten ständig Hunger.

Die wenigen verbleibenden Stunden Freizeit nutzten sie zunächst, um ihr Überleben zu sichern. Sie versuchten auf dem Schwarzmarkt Brot zu erstehen oder putzten – gegen ein Mittagessen – für eine deutsche Familie. Damit konnten sich auch ärmere Deutsche ein Dienstmädchen oder einen Bauarbeiter ins Haus holen – wortwörtlich für ein Butterbrot.

Die Zwangsarbeit ist im Vergleich zu anderen Nazi-Verbrechen wie dem Holocaust weit weniger erforscht. Wie erklären Sie sich das?

In Deutschland wurde die NS-Zwangsarbeit – trotz ihrer zentralen Rolle in den Nürnberger Prozessen – jahrzehntelang als übliche Begleiterscheinung von Krieg und Besatzungsherrschaft bezeichnet und damit zugleich bagatellisiert, nicht aber als spezifisches NS-Unrecht anerkannt.

Erst 65 Jahre nach Kriegsende rief eine öffentliche Debatte um die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter diese lange Zeit vergessenen Opfer wieder ins Gedächtnis. Überall in Deutschland erforschten lokale Initiativen die Geschichte der Zwangsarbeit und organisierten Begegnungen. Viele Gedenkstätten wurden errichtet. Dennoch ist das Bewusstsein für dieses Verbrechen bei vielen Deutschen noch immer gering.

Bei vielen Deutschen ist das Bewusstsein für dieses Verbrechen gering.

Inwiefern brachte das Kriegsende für Millionen von Zwangsarbeiter nur bedingt die Befreiung?

Nach ihrer Befreiung machten sich viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf eigene Faust sofort auf den Heimweg. Andere lebten als «Displaced Persons» weiterhin in Lagern und warteten oft monatelang auf ihre Rückkehr oder auf eine Ausreise nach Übersee.

Zwei Männer stehen vor einer Ausstellungswand mit historischen Dokumenten eines Zwangsarbeiters.
Legende: Am Standort HASAG, dem ehemals grössten Rüstungsbetrieb Sachsens, befindet sich eine Gedenkstätte für Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter der NS-Zeit. Keystone

Viele Rückkehrerinnen und Rückkehrer wurden in ihrer Heimat pauschal der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt, vor allem in der Sowjetunion, wo nicht wenige in den stalinistischen Lagern verschwanden.

Die meisten Betroffenen litten lange und besonders im Alter unter den psychischen und physischen Folgeschäden. In vielen osteuropäischen Ländern lebten sie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften am Rand des Existenzminimums.

Jahrzehntelang verweigerten Regierungen und Unternehmen eine Entschädigung.

Hat der deutsche Staat bisher genug getan zur Wiedergutmachung für das begangene Leid an den Zwangsarbeitern?

Jahrzehntelang verweigerten Regierungen und Unternehmen den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern eine Entschädigung. Erst Ende der 1990er-Jahre erzwang der politische Druck aus den USA die Gründung der von Staat und Wirtschaft finanzierten Stiftung «Erinnerung, Verantwortung und Zukunft».

Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung zahlte eine Gesamtsumme von rund 4,7 Mrd. Euro an 1,7 Mio. Überlebende aus. Die Betroffenen erhielten je nach Verfolgungsschicksal eine einmalige Zahlung zwischen 500 und 7700 Euro.

Kriegsgefangene und westeuropäische Zivilarbeiter waren grundsätzlich nicht leistungsberechtigt. Viel zu spät – erst 2015 – wurde schließlich den wenigen noch lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen eine symbolische Entschädigung zugesprochen.

Was hat dies gebracht?

Diese Zahlungen sind nicht als Entschädigung und schon gar nicht als Wiedergutmachung zu werten. Wichtig sind sie aber als – freilich allzu späte – Geste der Anerkennung und Entschuldigung.

Das Gespräch wurde schriftlich von Felix Münger geführt.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Büche, 26. März 2017,11.03 Uhr.

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