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Gesellschaft & Religion «Die Selbstzensur in der Türkei ist enorm»

In der Türkei sind derzeit mehr Journalistinnen und Schriftsteller in Haft als in China oder Iran. Tausende sind arbeitslos. Amalia van Gent, ehemalige Türkei-Korrespondentin der NZZ, beschreibt die dramatische Situation vier Monate nach dem gescheiterten Putschversuch gegen die Regierung Erdogan.

Im vergangenen Juli versuchten Teile der türkischen Armee gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu putschen. Der Versuch scheiterte. Seither wurden tausende Menschen festgenommen oder suspendiert. Die Massnahmen betreffen vor allem Angehörige des Militärs, der Justiz und der Medien.

Seit der Stürmung der unabhängigen Tageszeitung «Cumhuriyet» Anfang November spitzt sich die Situation zu. Unter Autoren und Journalistinnen herrscht ein Klima der Angst und Repression. Amalia van Gent, ehemalige Türkei-Korrespondentin der NZZ, hat Freunde, die betroffen sind.

SRF Kultur: Wie laufen die Verhaftungen der Journalisten in der Türkei ab?

Amalia van Gent: Bei meiner Freundin Sibel Oral klingelte es um fünf Uhr morgens. Sie machte die Tür auf und sieben schwer bewaffnete, maskierte Männer stürmten ihre Wohnung. Sie verhafteten ihren Mann, Murat Özyasar. Er ist, wie Sibel auch, Schriftsteller. Die Festnahme wurde mit keinem Wort begründet.

Laut Berichten internationaler Organisationen werden die Insassen misshandelt.

Auf die gleiche Weise wurden auch Schriftsteller wie Ahmet Altan und Asli Erdogan verhaftet. Was will das Regime mit diesem brutalen Vorgehen erreichen?

Zur Person

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Legende: Keystone

Amalia van Gent ist Publizistin und war über zwei Jahrzehnte Türkei-Korrespondentin der NZZ.

Sie wollen die bekanntesten Autoren entmutigen. Diejenigen, die bisher eine Stütze für die Gesellschaft waren. Auf diese Art festgenommen zu werden, ist gleichzeitig eine Botschaft an die einfachen Leute, damit sie keine Kritik an die Regierung zu äussern wagen. So schüchtert das Regime die gesamte Bevölkerung ein.

Sie haben viele Freunde, die Schriftsteller und Journalistinnen sind. Einige sind im Gefängnis. Wie geht es denen?

Eine der bekanntesten unter ihnen, Asli Erdogan, bekommt keine Medikamente. Laut Berichten internationaler Organisationen wie Amnesty International werden die Insassen misshandelt. Was mich beunruhigt, sind die fünf ersten Tage, in denen niemand Kontakt mit den Festgenommenen aufnehmen darf.

Einige Journalisten und Schriftstellerinnen sind ins Ausland gegangen. Wie geht es denen?

Yavuz Baydar beispielsweise kann für die Süddeutsche Zeitung schreiben. Aber viele andere sind im Moment arbeitslos. Sie können als türkische Autoren meist nicht in einer anderen Sprache schreiben. Wenn sie im Ausland sind, sind sie deshalb auf Hilfe angewiesen.

Ich habe jeden Tag Angst, in der Zeitung einen bekannten Namen zu lesen.

Wie verhalten sich die Journalistinnen und Schriftsteller, die noch im Land sind?

Nach dem Putschversuch wurden über 100 Medienhäuser geschlossen. Das bedeutet, dass auf einen Schlag 2500 Medienleute arbeitslos wurden. Auf der einen Seite haben wir also kritische Journalisten, die festgenommen wurden, auf der anderen Seite eine ganze Armee an Journalisten, die arbeitslos sind und Angst haben, ihre Arbeit nicht mehr ausüben zu können.

Und deshalb Selbstzensur ausüben.

Im Land hat sich eine ungeheuerliche Selbstzensur breit gemacht.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Ich habe jeden Tag Angst, in der Zeitung einen bekannten Namen zu lesen. Einen Freund oder Bekannten zu finden, der nun auch hinter Gittern ist.

Was kann man tun?

Lange musste man vorsichtig sein mit Kritik, die sich direkt gegen Erdogan richtet. Mittlerweile nützt es nicht viel, wenn man nur sagt, man sei besorgt. Als nächstes müssten europäische Länder Sanktionen gegen andere Regierungsmitglieder verhängen.

Das Gespräch führte Theresa Beyer.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 15.11.2016, 17:15 Uhr

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