Stellen Sie sich vor: Jede Erinnerung wäre abrufbar wie ein Video – jederzeit abspielbar vor dem inneren Auge wie eine Filmsequenz. Und: bei Bedarf auch löschbar. Genau darum geht’s in einer Folge der Netflix-Serie «Black Mirror».
Die Idee ist in der Film- und Fernsehwelt nicht neu: Auch im Film «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» (deutscher Titel: «Vergiss mein nicht!») will das Liebespaar Clementine und Joel nach ihrer schmerzhaften Trennung alle Erinnerungen voneinander löschen lassen.
Denn belastende Erinnerungen kennen wir alle. Manche verblassen, andere brennen sich schmerzhaft ein. Was wäre, wenn wir sie gezielt löschen könnten – wie eine Datei auf dem Computer?
Wenn das möglich wäre: Würden Sie es tun?
Das Vergessen als Erleichterung
Diese Frage stellt sich auch Thorsten Glotzmann. Er ist Philosoph, Autor und Journalist. In seinem letzten Buch «Herr G. hat Angst» (2024) beschäftigt er sich mit Ängsten verschiedener Art und lotet aus, wie er diesen in seinem Leben begegnen kann.
Im ersten Moment könnte man meinen, Glotzmann wäre ein Verfechter des gezielten Vergessens. Denn in seinem Buch beschreibt er unter anderem Erinnerungen, die für seine autofiktionale Figur «Herrn G.» belastend sind.
So eine Situation auf dem Fussballplatz in seiner Jugend: Der junge Herr G. steht als Kapitän der Mannschaft vor einem wichtigen, punktentscheidenden Penalty. Er nimmt Anlauf, schiesst – und verfehlt das Tor. Die Enttäuschung über die eigene Fehlleistung ist gross.
Der Autor betont, dass ihn das Fussballerlebnis bis heute immer wieder beschäftigt. Wäre es nicht eine Erleichterung, Momente wie diesen vergessen zu können?
Erinnerungen belasten
Eines ist klar: Erinnerungen können schmerzhaft sein und das Leben nachhaltig prägen. So zeigt die Psychologie, dass sich schon frühe, belastende Erfahrungen in der Kindheit auf das ganze Leben auswirken können. Wer heute ein «People Pleaser» ist, war früher häufig ein «Parent Pleaser» und kann Schwierigkeiten damit haben, Grenzen zu setzen und für die eigenen Bedürfnisse einzustehen.
Die Binsenweisheit «Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker» ist also häufig ein Trugschluss: Denn negative Erfahrungen härten nicht zwingend ab, sondern schwächen häufig und können Menschen daran hindern, ihren eigenen Wünschen und Träumen nachzugehen.
Wäre es da nicht gerecht und praktisch, belastende Erinnerungen auslöschen zu können? Philosoph Thorsten Glotzmann findet darauf eine klare Antwort: Wenn wir Erinnerungen löschen, radieren wir auch einen Teil unserer Identität aus.
Erinnerungen sind identitätsstiftend
«Wenn ich anfangen würde, einzelne Episoden oder Gefühle aus meiner Vergangenheit zu löschen, dann verliere ich mich», sagt er. Die «Fussballerinnerung» etwa habe ihn gelehrt, dass Scheitern zum Leben dazugehöre und es in Ordnung sei, Fehler zu machen.
Weil Erlebnisse der Vergangenheit massgeblich zur Ausbildung der eigenen Persönlichkeit beitragen, bedeutet das Auslöschen von Erinnerungen also immer auch das Auslöschen eines Teils unseres Selbst.
Mit dieser Erkenntnis reiht sich Glotzmann in eine Reihe von Philosophinnen und Philosophen ein, die zur Bedeutung von Vergangenheit für unser heutiges Ich geforscht haben. So zum Beispiel Henri Bergson aus dem 19. Jahrhundert: In seinem Werk «Materie und Gedächtnis» arbeitet er unter anderem heraus, dass Erinnerungen im Gedächtnis jeder Person individuell zusammenspielen und zu einer ganz eigenen Wahrnehmung der Realität führen.
Erinnerungen lassen sich damit nicht scharf voneinander trennen, sondern sind miteinander verwoben. Mit dem Löschen von Erinnerungen zahlen wir also einen hohen Preis: den Preis unserer eigenen Identität.
Das Leben selbst schreiben
Denn: Das Leben ist eben keine Black-Mirror-Folge – und das Gehirn keine Festplatte, auf der unsere Erinnerungen eins zu eins gespeichert sind und nach Lust und Laune gelöscht werden können.
Doch wie lässt sich in dieser Realität dann mit Erinnerungen umgehen? Thorsten Glotzmann betont: Auch wenn wir Erinnerungen nicht löschen können, können wir bestimmen, welche Bedeutung wir ihnen beimessen und sie in unser Leben einordnen. Wir können zu «Geschichtenerzählern» unseres eigenen Lebens werden, wie er es nennt.
Damit ist gemeint, Erinnerungen zu benennen, ihre Prägung auf das eigene Leben zu verstehen und sie in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Diese Methode wird in einigen Formen der Traumatherapie, besonders etwa in der narrativen Expositionstherapie nach Maggie Schauer, praktiziert.
In dieser therapeutischen Arbeit können Menschen Autonomie erleben und feststellen: Meine Geschichte bestimmt nicht mich, sondern ich bestimme meine Geschichte.
Möchten Sie die Datei endgültig löschen?
Entsprechend wäre es also gar nicht hilfreich, Erinnerungen löschen zu können. Denn egal wie belastend sie auch sein mögen: Sie gehören zur eigenen Lebensgeschichte dazu.
Selbst wenn Ehemann Liam in «Black Mirror» alle Erinnerungen an seine Frau im Gehirn des Ex-Partners auslöscht, kann er nicht auslöschen, dass der Verflossene zu ihrer Geschichte dazugehört. Und wenn Clementine und Joel sämtliche Erinnerungen an ihre Liebesbeziehung löschen, so sind es doch prägende, gemeinsame Momente, die dabei verloren gehen.
Nicht umsonst sträubt sich Joels Unterbewusstsein im Laufe des Films während dieses Löschversuches. Es ist die Rebellion gegen das Auslöschen eines wichtigen Teils in ihm. Denn zu einem Leben gehören nun mal alle Erinnerungen dazu: die schönen genauso wie die schmerzlichen.