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Entzückende Erinnerungen So stärken Sie Ihr Glücksgedächtnis

Unser Gehirn neigt dazu, hauptsächlich Negatives zu behalten. Doch wir können lernen, schöne Momente bewusst abzuspeichern. Eine Annäherung an das versteckte Glück – auf den Strassen Zürichs.

Ein milder Frühsommertag am Zürcher Limmatquai. Die Luft ist lau, als ich mich an eine Strassenumfrage wage. «Darf ich Sie etwas fragen, für SRF? An welche Glücksmomente erinnern Sie sich?» Manche werfen einen flüchtigen Blick, manche schütteln den Kopf. Die meisten gehen weiter. Einer sagt: «Äxgüsi, der Tag war so verschissen …» Das wiederholt sich. Lange.

Ein Schluck Sommer, ein Hauch Vergangenheit

Neurowissenschaftler sagen, wir merken uns Negatives intensiver als Positives. Jedenfalls erstmal. Das liegt an der Amygdala, unserem «Frühwarnsystem» oder «Angstzentrum» im Gehirn. Sie springt besonders schnell auf negative Reize an – wie ein innerer Alarm, der losgeht, wenn im Gebüsch etwas raschelt und es eine Schlange sein könnte.

Wie funktioniert die Amygdala?

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Illustration eines menschlichen Kopfes mit transparentem Gehirn.
Legende: 3D-Darstellung des Gehirns. Die Amygdala ist blau eingefärbt. IMAGO / Depositphotos

Die mandelförmige Amygdala, die sich innerhalb des limbischen Systems befindet, ist tief in das emotionale Gedächtnis involviert. Sie zeigt eine grössere Aktivität bei negativen als bei positiven Reizen. In den Neurowissenschaften bezeichnet man dieses Phänomen als «Negativitätsverzerrung».

Diese Verzerrung ist jedoch kein Mangel, sondern eine entscheidende evolutionäre Anpassung. Sie veranlasst Individuen dazu, mehr Zeit mit der Betrachtung von negativem Feedback zu verbringen, Gesichtern mit negativen Emotionen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, bedrohliche Situationen zu priorisieren und Bedrohungen allgemein schneller zu erkennen. Man kann sie somit als Überlebensstrategie zur Bedrohungsvermeidung begreifen.

Vielleicht ist es auch eine Schnapsidee, sich nachmittags ans Limmatquai zu stellen und Gestresste nach Glücksmomenten zu fragen, denke ich. Einer bleibt stehen. «Erinnern Sie sich an Glücksmomente? Vor kurzem? Oder früher?»

Strassencafé in Zürich mit Radfahrer und Kirchturm im Hintergrund.
Legende: Bei der Strassenumfrage zeigt sich: Spontan einen persönlichen Glücksmoment zu erzählen, ist für viele gar nicht so einfach. (Symbolbild) KEYSTONE / Gaetan Bally

«Das erste Gazosa im Tessin. In den Ferien, Ascona.» Eine andere erzählt, sie sei vor Kurzem durchs Appenzell gewandert, da habe jemand gekocht. Der Geruch des Gerichts habe bei ihr die Erinnerung an ihre längst verstorbene Grossmutter wachgerufen, die sei vor dem inneren Auge plötzlich wieder vor ihr gestanden. «Da war ich einen Moment lang glücklich.» Einer sagt, sein Sohn habe endlich eine Lehrstelle.

Eine andere erzählt vom Tag, als das Wahlrecht für Frauen kam: «Mein späterer Mann hat trotzdem nie den Müll heruntergetragen. So ist das mit dem Glück», sagt sie, lacht – und geht weiter.

Erinnerungs-Tagebuch

Eine Schülerin bleibt stehen, verweilt länger als die anderen. Wenn es um Erinnerungen gehe, habe sie an sich selbst beobachtet, dass sie sich intensiver an negative Sachen erinnere, wenn «mich jemand dumm anredet». Oder es gebe eine Kollegin, die werde gemobbt. Das würde ihr selbst tagelang nachgehen, obwohl sie gar nicht betroffen sei. Amygdala, denke ich mir.

Nach einiger Zeit wird mir klar, dass sie sich bereits tiefer mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Vor einiger Zeit mussten sie in der Schule ein «Tagebuch der schönen Erinnerungen» führen, erzählt sie.

Frau sitzt draussen und schreibt in ein Notizbuch.
Legende: Auch sogenannte «Gratitude Journals», Dankbarkeitstagebücher, liegen im Trend. Ziel dabei ist, sich auf das Positive im eigenen Leben zu fokussieren. (Symbolbild) IMAGO / Westend61

Sie hätten jeden Tag Revue passieren lassen und drei schöne Erinnerungen aufschreiben müssen: «Nach einem Monat waren es – logisch – fast hundert.» Das habe gutgetan. Am Schluss habe sie das Ganze gelesen, «das hat noch besser getan.» Seitdem habe sich ihre Einstellung, mit der sie den Tag beginnt, geändert.

«Stimmungsmodulation» nennt das die Neurowissenschaft. Wir bekommen bessere Laune, wenn wir uns auf Schönes konzentrieren. Daraus ist längst eine Ratgeber-Industrie entstanden, denke ich mir. Aber kommerzielle Absichten kann man Lisas Experiment nicht zum Vorwurf machen, es ist erstmal nur eine persönliche Entdeckungsreise.

Drei Generationen Glück

Daraus habe sich die Idee für eine Projektarbeit entwickelt. Sie wollte Frauen mehrerer Generationen fragen, an welche glücklichen Momente sie sich erinnern, was Glück überhaupt sei. «Nicht das Glück, wenn man eine Prüfung besteht, sondern das Glück, das tiefer sitzt. Ich wollte herausfinden, ob sich das im Laufe des Lebens verändert, deshalb die drei Generationen», sie heisse übrigens Lisa.

Wie wirksam ist ein Dankbarkeitstagebuch?

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Eine aktuelle, gross angelegte Studie von Forschenden der psychologischen Institute der Universitäten von Kalifornien, Florida und Chicago im «Journal of Positive Psychology» untersuchte sieben verschiedene Dankbarkeitsinterventionen, darunter Dankbarkeitstagebücher. Die Ergebnisse zeigen, dass die Massnahmen signifikant positive Emotionen steigern und negative Emotionen reduzieren können. Besonders wirksam waren im Vergleich zu Kontrollgruppen regelmässige Einträge in Dankbarkeitslisten.

Vor mir steht diese 17-Jährige. Ich bin Babyboomer, fast 50 Jahre trennen uns. Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen, frage ich mich. Aber Lisa erzählt schon weiter.

«Glück spürt man – immer»

Sie habe ihre Freundin Carla interviewt, «die ist auch 17, wie ich.» Carla erinnere sich, «dass sie als Kind gerne zwischen Wiesenblumen spielte, das machte sie damals glücklich», erzählt Lisa. Carla habe über Glück gesagt: «Man weiss es nicht immer, dass etwas Glück ist. Aber man spürt es – immer.»

Mädchen in Blumenfeld mit rotem Mohn.
Legende: Oft brennen sich kleine, unscheinbare Momente ins Gedächtnis: wie man als Kind über die Wiese rannte, mit Stock und Stein spielte – ohne Ziel oder Zeitdruck. (Symbolbild) Getty Images / Sven Hagolani

Glück sei nicht ein Moment, sondern viele: Sich mit Freunden gut zu verstehen, dazuzugehören, aufgehoben zu sein. Ob sie irgendwann Familie habe, wisse sie nicht, aber Freunde werde sie weiterhin haben. Zum «Dazugehören» brauche es nicht unbedingt eine Familie.

Sie wünscht sich nur jemanden, den sie immer anrufen kann. «Das wird mich mit 40 immer noch glücklich machen.» Kann ich verstehen, denke ich mir, Einsamkeit ist eine Zumutung. Wenn sie mit Carla über Glück rede, sagt Lisa, dann gehe es ihnen nicht um Riesengrosses.

Die kleinen Gefallen würden es ausmachen. «Wenn es mir nicht gut geht und jemand kommt vorbei, macht mich das glücklich», hätte Carla gesagt, aber eine wichtige Bedingung für später sei, dass sie mit 40 eine Arbeit hat, die ihr Spass macht. Geld sei nicht ihre höchste Priorität.

Vom Glück des Innehaltens

Für Lisas Mutter ist Familie zentral. Bei jedem ihrer drei Kinder hätte es Glücksmomente gegeben, die ihr blieben. Die Geburt des ersten Kindes sei schwer gewesen. Das Schwere war irgendwann weg. Geblieben sei, wie sie und ihr Mann am Morgen nach der Entbindung dagesessen seien, das Neugeborene neben sich auf dem Bett. Frühstück. Pflaumenkonfi und Brot. Wenn sie heute irgendwo Pflaumenkonfi sehe …

Vergessen mit System – der «Fading Affect Bias» (FAB)

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Das Phänomen, dass negative Erinnerungen im Lauf der Zeit ihre Intensität verlieren und dass man sich eher die positiven Anteile erinnert, bezeichnen die Neurowissenschaften als «Fading Affect Bias» (FAB). Langfristig verblasst die negative emotionale Intensität demnach schneller als die positive. Wohlbefinden mit einer ursprünglich negativen Erinnerung bewirken kann. Verantwortlich hierfür sind unter anderem der Hippocampus und die Amygdala.

An ihrem 40. Geburtstag hätten sie die vielen Menschen, ihre Kinder, ihr Mann, ihr Haus, das Gefühl, dass ihr ein Haus und ein kleines Unternehmen gehört, woran sie arbeiten konnte, glücklich gemacht. Das habe damals gepasst.

Frau hält Toast mit Marmelade und lächelt.
Legende: Manchmal manifestiert sich das Glück in so einfachen Dingen wie einem Stück Brot mit einem Klecks Konfi. (Symbolbild) Getty Images / FreshSplash

Heute sei Glück eher, im Moment sein zu können, das habe sie schon als Kind glücklich gemacht, aber das gelinge ihr heute weniger. Zu viele Sorgen. Die Weltlage. Der Krieg in der Ukraine. Totalitäre Politiker. Das deprimiere sie. Sie hätte nicht die Zeit, Glücksmomente aufzuschreiben. Vor Kurzem hätte sie ein Familienalbum aus dem Regal gezogen und fast vergessene Glücksmomente gefunden. Die waren plötzlich wieder da.

«Inseln» im Alltag

Heute mit fast 60 schätze sie die «Mini-Alltags-Glücksmomente». Zeit haben, um zu lesen. Gute TV-Serien schauen. Kürzlich sei sie spontan mit einer Freundin an einem sonnigen Nachmittag in ein Café gegangen. Ein Glücksmoment. Eine Insel mitten im Alltag. 

Glück ist so ein grosses abstraktes Wort, denke ich mir. Und wenn ich Lisa so zuhöre, sind es kleine konkrete Momente, egal ob sie von ihrer Freundin oder ihrer Mutter erzählt.

Das stille Glück der Grossmutter

«Und was sind für deine Grossmutter glückliche Momente?» – «Dass ich deine Grossmutter sein durfte», habe die Grossmutter auf diese Frage zu ihr gesagt. Lisa ist anzusehen, was ihr der Satz bedeutet. «Sie ist fast 90, hat den Krieg erlebt, redet aber wenig darüber. «Ich habe mich nicht getraut, nachzufragen.»

Ältere Frau lächelt Blumen in einem Garten an.
Legende: Zufriedenheit findet man auch in alltäglicher Achtsamkeit. Etwa, wenn man sich für scheinbare Nichtigkeiten wie den Duft frischer Blumen begeistern kann. (Symbolbild) IMAGO / Cavan Images

«Glück» sei für die Grossmutter gewesen, dass es ihrer eigenen Familie gut geht. Heute schätzt sie es, gesund zu sein. Sie fühle sich auch privilegiert, in der Schweiz zu leben, «ein gutes Land, ein sicheres Land». Sie sei zufrieden. Das Wort «zufrieden» benutze die Grossmutter öfter als «glücklich». Sie habe einen Satz aus dem autogenen Training. Wenn sie sich den immer wieder vorsage, gehe es ihr auch meistens besser.

Das sei ihre Lebenseinstellung: Lisas Grossmutter konzentriert sich auf die positiven kleinen Dinge und legt die negativen einfach auf die Seite. Das hilft ihr, auch traurige Momente zu überstehen. Ihr Mann sei gestorben. Eine schwere Zeit. Seitdem lebt sie alleine. Sie habe die Trauer überstanden, sagt sie.

Warum wir uns im Alter lieber an das Gute erinnern

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Das «Pollyanna-Prinzip», auch als Positivitätsverzerrung bekannt, bezeichnet die Tendenz von Menschen, sich angenehme Dinge genauer zu merken als unangenehme. Die Forschung legt nahe, dass dies grösstenteils unbewusst geschieht.

Der Geist konzentriert sich unbewusst auf das Optimistische, selbst wenn das bewusste Denken eher negativ ist. Mit dem Alter nimmt diese Positivitätsverzerrung zu und ist bei älteren Menschen häufiger als bei jüngeren. Ältere Erwachsene zeigen eine Verschiebung im emotionalen Gedächtnis: Sie erinnern sich eher an Informationen, die die Stimmung verbessern, als an bedrückende Informationen.

Die «Sozioemotionale Selektivitätstheorie» (SST) liefert eine Erklärung für diese altersbedingte Verschiebung. Die SST postuliert, dass ältere Erwachsene, wenn sie ihre Zukunft als begrenzt wahrnehmen, gegenwartsbezogene Ziele mit emotionaler Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit gegenüber zukunftsbezogenen Zielen priorisieren. Diese motivationsbedingte Verschiebung lenkt die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis auf Positives.

Mit dem Erinnern an Glücksmomente ist es so eine Sache. Ich als Babyboomer erinnere mich an den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch in den 1980er-Jahren, der sagte: «Wenn man sich keine Erinnerungen schafft, kann man sich auch nicht erinnern.» Amygdala hin oder her, Hüsch hatte recht: Schöne Erinnerungen muss man sich schaffen.

So wie Lisa. Sonst rutschen sie einem weg. Das wäre schade, denn auch die Glücksmomente in unserem Jetzt sind irgendwann Erinnerung. Genau davon singen die deutschen Hip-Hopper Die Orsons in ihrem Lied «Jetzt»: «Sollten unsere Kinder irgendwann mal meckern, früher war alles viel besser, dann mein’ sie damit: jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt …»

Hinweis

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Die Namen der beiden Jugendlichen in diesem Text wurden geändert, sind der Redaktion aber bekannt. Weder die Jugendlichen noch die Mutter wollten mit ihrer privaten Familiengeschichte erkennbar in der Öffentlichkeit stehen.

SRF 1, Kulturplatz, 4.6.2025, 22:25 Uhr

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