Als ich mich auf die Suche nach dem Mysterium der Frau in den «mittleren» Jahren, also der Frau zwischen ungefähr 42 und 65 oder auch einfach der Frau um die 50 begab, stolperte ich über ein Familienbild: Es zeigt meine Grossmutter in ziemlich genau dem Alter, das jetzt meines ist und von dem ich immer sage, dass es jetzt meinem Sonnenschutzfaktor entspricht: 50plus.
Ich bin jetzt 53 Jahre alt. Und damit genau so alt wie Shonda Rhimes, die wichtigste Frau bei Netflix. Doch dazu später.
Auf dem Familienbild wird ein Familienfeiertag auf dem Land begangen, alle haben sich schön angezogen und aufgestellt, und selbst in dieser schon fast erhabenen, sonntäglichen Familienaufstellung schafft es meine Grossmutter, am meisten aufzufallen. Sie trägt etwas Selbstgenähtes, Kniekurzes aus gross gemusterter Kunstfaser, es ist ein Highlight von Seventies-Mode.
Dazu trägt sie schicke weisse Schnallenschuhe, die wie immer eine Nummer zu klein sind, weil sie das nun mal einfach schicker fand, ihr Gesicht ist glatt, ihr Haar in sorgfältige Wellen gelegt, sie macht anmutige Ballerina-Hände und sieht aus wie die Frau, die sie damals auch war: selbstbewusst, attraktiv und definitiv ohne Hang zur Zurückhaltung. Eine sichtbare Frau eben.
Selbstverständlich würde meine Grossmutter versuchen, mir für den folgenden Vergleich aus dem Jenseits ihre Asche ins Gesicht zu pusten, aber sie gleicht auf dem Bild ein wenig Samantha aus «Sex and the City».
Natürlich fand ich sie damals alt. Schliesslich war sie meine Grossmutter, und eine Grossmutter war per Definition alt. Jetzt muss ich sagen: Die Frau auf dem Bild sah damals jünger aus als ich heute, und auch ich fühle mich nicht wirklich so, wie ich mir 53 einmal vorgestellt habe, wenn ich in den Spiegel schaue.
Vielleicht liegt es daran, dass ich die gleiche Hautcreme benutze wie Jennifer Lopez (54), bevor sie eine eigene entwickelt hat. Irgendwo lese ich, dass Victoria Beckham (49), die schon lange kein Spice Girl mehr ist, in Bademode aussieht wie 25. Woanders sagt Victoria Beckham gerade: «Ich möchte nie mehr 25 sein.»
Ich auch nicht. Ich würde sagen, weil ich mit 25 eine Person zwischen Verunsicherung und Überheblichkeit war. Instabil. Victoria Beckham sagt, weil sie damals noch keine Ahnung hatte, wie man sich richtig schminkt. Da haben wir also beide unsere Fortschritte gemacht.
Supermodels sind keine Vorbilder
Aber wie sollte ich mich denn eigentlich fühlen? Welches Gefühl wäre meinem Alter angemessen? Ich identifiziere mich nicht mit Heidi Klum (50), die seit einigen Jahren unter einem zunehmenden Ausziehzwang leidet, dauernd über ihre Brüste reden muss und neben ihrer Tochter BH-Werbung macht. Was für ein Stress!
Ich finde aber auch nicht, dass sich die Supermodels Naomi Campbell (53), Linda Evangelista (58), Christy Turlington (54) und Cindy Crawford (57) für die «Vogue» nicht jünger photoshoppen lassen dürfen. Keine normale Frau ist ein Supermodel. Weder mit 20 noch mit 50.
Supermodels sind Wunschmaschinen und so wenig ein Vorbild wie Barbie. Dass Madonna mit 65 aus ihrem Gesicht etwas macht, das ich aus meinem nie machen würde, ist okay, Madonna machte schon immer, was sie wollte, das definiert sie.
Das Inferno namens Wechseljahre
«Warum gebildete Frauen über 50 keinen Partner finden», titelt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» besorgt, wahrscheinlich, weil sie gebildet sind. Und über 50. Direkt unter den überqualifizierten Single-Frauen bringt die «FAZ» die ebenfalls beunruhigende Studie «Persönlichkeitsstörung: So erkennt man Psychopathen». Was für eine Nachbarschaft der gesellschaftlichen Gruselthemen!
Ist die Frau über 50 etwa gar eine psychopathologische Untergruppe? Natürlich nicht. Oder etwa doch? Kommen wir an der brenzligen Grenze zwischen MILF ( Mother I’d like to fuck ) und erotisch nicht mehr vermittelbar etwa in die schwierigsten Jahre?
Bürdet uns da die Scheissnatur nicht dieses Inferno namens Wechseljahre auf, das im Schnitt mit 47 beginnt? Diese zweite Pubertät? Entwickelt sich da der Körper nicht erneut zu einem hormonellen Atomkraftwerk?
Thomas Mann: frauenfeindlich oder feinfühlig?
Meine erste Begegnung mit einer Frau in den Wechseljahren hatte ich mit ungefähr 18. Die Frau war exakt 50 Jahre alt und die tragische Heldin der Erzählung «Die Betrogene» von Thomas Mann. Er beschreibt die Wechseljahrbeschwerden seiner verwitweten Rosalie von Tümmler in den ekelhaftesten Farben, mir graute beim Lesen, es schien nach 50 kein Leben mehr zu geben.
Doch dann verknallt sich Rosalie in den jungen Englischlehrer ihres Sohnes, einen schmalhüftigen, breitschultrigen Amerikaner, der aussieht wie Barbies Ken und auch Ken heisst. Rosalies Libido bäumt sich noch einmal auf, sie scheint sich zu verjüngen.
Frustrierter als eine Hexe kann eine alternde Frau eigentlich gar nicht sein.
Doch ach, kaum haben sie und Ken sich geküsst, bricht sie zusammen und verblutet beinahe: Die Emotionen haben nicht nur ihre Fantasie, sondern vor allem ihren weit fortgeschrittenen Gebärmutterkrebs getriggert, der einen letzten Schwall von beglückendem Östrogen durch Rosalies System jagt, bevor er sie tötet.
Als ich «Die Betrogene» mit 18 las, hielt ich sie für eine komplett frauenfeindliche Erfindung des Autors. Beim Wiederlesen musste ich mir jedoch gestehen, dass dies im Gegenteil äusserst feinfühlig und realitätsgetreu geschrieben war.
Brutale Entjungferung
Die guten alten Märchen haben sich mit keinem menschlichen Entwicklungsstadium so obsessiv befasst wie mit der weiblichen Pubertät. Bei den Brüdern Grimm werden die bald geschlechtsreifen Mädchen gerne weggesperrt oder ins Koma versetzt, Rapunzel muss in ihren Turm, Dornröschen wird in 100 Jahre Schlaf versetzt, beide sind zum Zeitpunkt ihrer Entfernung aus der Gesellschaft etwa zwölf Jahre alt, Schneewittchen wird mit 14 in seinen Sarg gelegt.
Hans Christian Andersen wiederum gewährt seinen Heldinnen Entwicklungen, wenn auch die allerschmerzhaftesten. Als sich die kleine Meerjungfrau verliebt, verliert sie ihre Zunge und damit ihre Macht, zu reden. Ihr Fischschwanz spaltet sich in zwei Menschenbeine und jeder Schritt tut so weh, als ob ihr Schwerter in die Beine schneiden würden. Brutaler kann man die von der Meerjungfrau herbeigesehnte Entjungferung eigentlich nicht vorwegnehmen.
Märchen: gute alte Frau vs. böse alte Frau
Die Frau in ihrer zweiten Pubertät macht im Märchen selbstverständlich keine derartigen Entwicklungen mehr. Allerdings kennt sie zwei Existenzformen: die gute alte Frau und die böse alte Frau, die Grossmutter und die Hexe. Die eine sitzt weise und lieb an ihrem Spinnrad und wird in ihrer grenzenlosen, naiven Güte gelegentlich auch ein Opfer, etwa von einem Wolf.
Die andere sitzt in ihrem kleinen, neurotischen Horrorhaus, lockt Kinder an und mästet sie, bis sie die Qualität von Foie gras erreicht haben, oder sie quält die bereits erwähnten pubertierenden Mädchen. Die Grossmutter dürfte keine grossen menopausalen Beschwerden erlebt haben und ist deshalb milde und zufrieden.
Die Hexe mit ihren perversen Begierden und Foltermethoden, die sich alle gegen kleine unschuldige Wesen richten, befindet sich offensichtlich in einer hormonell schwer gestörten, von Missgunst gegen die Jugend zerfressenen Phase ihres Lebens.
Frustrierter als eine Hexe kann eine alternde Frau eigentlich gar nicht sein. Im 20. Jahrhundert wurden daraus Figuren wie Bette Davis und Joan Crawford in «What Ever Happened to Baby Jane». Zwei alleinstehende, verbitterte, krähenfüssige, keifende alte Schwestern, die einander zerfleischen.
Wir sind deutlich weiter als vor zwanzig, dreissig Jahren.
Der Film von Robert Aldrich kam 1962 ins Kino, Joan Crawford war damals 56, Bette Davis 54. Im Film wirken sie wie mindestens 75 und ihre Leben sind sowas von vorbei. Da sind sie, die Psychopathinnen.
Auch Carrie Bradshaw ist jetzt 56. Carrie Bradshaw, die New Yorker Beziehungskolumnistin, die seit 1998 von der zwei Jahre älteren Sarah Jessica Parker gespielt wird. Zuerst in der Serie «Sex and the City», dann in ein paar Filmen, jetzt im Spin-off «And Just Like That». Parker spielt damit seit einem Vierteljahrhundert Bradshaw.
Die Figur war beim Start eine 31-jährige Singlefrau mit viel Sex und einem völlig schiefen Männerkompass. Jetzt, mit 56, ist sie es immer noch und trägt auch immer noch die gleichen, spektakulären, niemals alltagstauglichen Kleider und High Heels.
Sie war schon immer eine wandelnde Mode-Werbung, aber, denke ich gerade, wieso auch nicht, meiner Grossmutter konnte schliesslich auch niemand die zu kleinen Schuhe ausreden.
Wenn schon alt, dann als Millionärin
Carrie und ihre Freundinnen sind jetzt alle radikal über 50, doch im Gegensatz zur landläufigen Mittfünfzigerin sind sie alle richtig reich. Oft spielte bei der Anhäufung ihres Geldes ein Mann eine Rolle, Carrie ist zum Beispiel eine reiche Witwe. Ihr Vermögen gibt ihnen den Sex-Appeal zurück, den ihre Körper trotz vielerlei Optimierungsmassnahmen doch ein ganz klein wenig verloren haben, es ist eine klare Ersatzhandlung.
Wenn schon alt, dann als Millionärin. Emanzipation bedeutet im Universum von Carrie Bradshaw schon immer auch hemmungsloser Materialismus.
Von wegen jung und erfolgreich
Es gab einmal eine Zeit, da hatte die Schauspielerin über 40 keine Chance mehr. Das hat sich nach der Jahrtausendwende geändert. Der einsetzende Serienboom holte bereits ausgemusterte Schauspielerinnen wieder aus der Versenkung. Und allmählich ergab sich ein schleichender Rückkoppelungseffekt auf Hollywood, die grosse Traummaschine schlechthin.
Die Oscars als beste Darstellerin gewannen in den letzten sechs Jahren: Michelle Yeoh (heute 61), Jessica Chastain (46), Renée Zellweger (54), Olivia Colman (49) und zweimal Frances McDormand (67). Das ist definitiv kein Jugendkult mehr.
Es ergibt sich bei den Gewinnerinnen ein Altersschnitt von 57.3 Jahren. Er liegt damit 0.9 Jahre über dem Altersschnitt der fünf Hauptdarstellerinnen von «And Just Like That». Und rund zwei Jahre über dem einstigen Altersschnitt der «Golden Girls» (1985 bis 1992), jener Best-Ager-Sitcom, deren Darstellerinnen mit ihren silberweissen Pudelfrisuren das Omatum schlechthin verkörperten.
Kein Mensch käme ernsthaft auf die Idee, in Michelle Yeoh oder Sarah Jessica Parker eine Oma zu sehen. Wir sind deutlich weiter als vor zwanzig, dreissig Jahren.
Je älter, desto radikaler
Auf Netflix definiert Shonda Rhimes (53), was ein blutjunges Publikum gerne sieht. Nämlich schlaue, ironische, historische Romanzen. Shonda Rhimes ist Serienmacherin und eine Person of Colour, begonnen hat sie ihre Karriere mit der weitgehend weissen Spitalserie «Greys Anatomy». Doch je älter sie wird, desto politisch radikaler wird sie.
In «How to Get Away With Murder» inszenierte sie die damals 49-jährige Viola Davis als korrupte Kult-Anwältin, in «Scandal» machte sie Kerry Washington zur Krisenmanagerin im Washington, für Netflix erfand sie «Bridgerton», besetzte Queen Charlotte mit einer schwarzen Hauptdarstellerin – und widmete ihrer Queen auch gleich noch das Spin-off «Queen Charlotte».
Ich liebe mein Leben gerade sehr, auch wenn die Hardware schon mal in einem softeren Zustand war als heute, doch mein Speicher ist voll und reich.
Alles, was sie erfindet, ist weltweit «meistgesehen» und läuft viele Staffeln lang. Keine Frau hat im Serienbereich jemals so viel Geld erhalten wie Shonda Rhimes von Netflix und auch fast kein Mann, sie nennt sich selbst die «Titanin» und sie wird immer mächtiger.
Heute gefalle ich mir besser
Während ich dies schreibe, trage ich einen quietschbunten, geblümten Jump-Suit, dessen Stoff auch meiner Oma rasend gut gefallen hätte. Genäht hat ihn eine sehr viel jüngere Leserin, zum Dank dafür, dass sie sich in meinen Texten so verstanden fühlt.
Meine Haare sind rot, seit ich 18 bin, die Farbe war noch nie echt, doch sie ist meine, und meine Coiffeuse meint, ich solle sie noch lange so lassen, Grau sei eine Bequemlichkeit, keine Farbe.
Ich bin nicht unsichtbar. Ich bin aber auch keine Schönheit, das war ich noch nie. Ich liebe mein Leben gerade sehr, auch wenn die Hardware schon mal in einem softeren Zustand war als heute, doch mein Speicher ist voll und reich und Gefühle wie Freude, Glück und eine grundsätzliche Zufriedenheit liegen mir jetzt näher.
Eine gelegentliche Unsicherheit lässt sich bis heute nicht beheben – möglicherweise ist sie typisch weiblich, vielleicht aber auch einfach sehr menschlich und bewahrt mich davor, zum allzu selbstsicheren Arschloch zu werden.
Trotz meiner Bildung bin ich kein Single. Ich hatte noch nie ein Problem damit, viel zu arbeiten und daraus einen Genuss zu ziehen, vielleicht gehöre ich zur letzten Generation, die das kann und auch will, und zu meinem eigenen Erstaunen war meine Arbeit noch nie so gefragt wie heute.
Ich schaue auf die Freundschaften, die mir über die Jahrzehnte geblieben sind und die das totale gegenseitige Vertrauen bedeuten, und bin dankbar. Ich lese, was ich früher geschrieben habe und was ich heute schreibe.
Ich betrachte alte und neue Fotos. Heute gefalle ich mir besser.