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Daigo «The Beast» Umehara hat eigentlich schon verloren. Doch er dreht den Match um, mit einer übermenschlichen Leistung in acht Sekunden.
Dieses einzigartige Ereignis ist unter den Namen «Evo Moment #37» oder «Daigo Parry» in die Geschichte des E-Sports eingegangen. Abgespielt hat es sich so:
Es ist der 1. August 2004. Wir sind in Südkalifornien auf dem Campus der polytechnischen Universität Pomona, rund 50 Kilometer östlich von Los Angeles.
Bereits zum sechsten Mal findet im Sommer die Computerspiel-Veranstaltung «Evolution Championship Series» statt, kurz «Evo». Die Disziplinen: die beliebtesten Prügelspiele der Saison, darunter auch das neue «Street Fighter III: Third Strike».
Ein Kampf um die Ehre
Die «Evo» ist ein offenes Turnier: Wer kommt, darf antreten. Rund 700 Menschen sind dabei, gewöhnliche Enthusiasten, aber auch die Besten der Welt, aus Amerika oder Japan.
Zwei von ihnen sind Justin Wong und Daigo Umehara. Justin ist zum Zeitpunkt des Turniers noch nicht einmal 19 Jahre alt.
Seinem Vater zu Hause in New York hat er erzählt, er besuche Freunde im nahen New Jersey. Stattdessen ist er nun am anderen Ende des Kontinents, um die Ehre der USA wiederherzustellen.
Einer der besten Kämpfer weltweit
Die Ehre der USA wurde in den Jahren davor arg gebeutelt. 2002 trat Justin bei «Evo» im Team USA gegen Japan an, in einem 5-gegen-5-Schaukampf. Team USA verlor haushoch. 2003 gelang es keinem einzigen Amerikaner, in die besten acht vorzustossen.
Daigo dagegen hat keine Rechnung offen. Der Japaner aus Aomori ist 23 Jahre alt. Er gilt als einer der besten Kämpfer der Welt, im Vorjahr hat er zwei zweite und zwei erste Plätze belegt.
Daigo ist bekannt und beliebt für seinen aggressiven Stil: angriffig, überraschend. Eine Begegnung mit ihm ist garantiert spektakulär.
Justin ist das pure Gegenteil: Seinen Kampfstil nennen die Fans «turtle style». Er spielt vorsichtig, wartet ab, riskiert wenig, verteidigt gut, setzt nur ab und zu einen präzisen Treffer.
Biest gegen Schildkröte
So zu spielen hat er in einer Spielhalle in Chinatown gelernt – erfolgreich, aber kühl kalkuliert. Bei den Fans ist der Stil nicht beliebt: Die Schildkröte wird auch mal ausgebuht.
In diesem Sommer ist das anders. Wieder dominieren die Japaner das Turnier. Justin hält sich tapfer, verkriecht sich in seinem Panzer, arbeitet sich geduldig durch seine Gegner.
Niemand buht mehr
Und es gelingt ihm ein Exploit – er wirft den Favoriten Toru «Raoh» Hashimoto aus dem Turnier. Das Publikum in Kalifornien ist aus dem Häuschen.
Niemand buht mehr. Alle sind im Gegenteil überzeugt, gerade den besten Match des Turniers gesehen zu haben. Und ahnen nicht, was noch kommt.
USA gegen Japan
Denn nun trifft Justin auf Daigo. Es ist das Halbfinale. Justin ist der letzte Amerikaner im Turnier. Eine perfekte Paarung: USA gegen Japan, offensives Risiko gegen defensive Sicherheit.
Daigo ist der Favorit – vor dem Turnier ist er zufällig in einer Spielhalle auf Justin getroffen und hat ihn in einem Game geschlagen. Doch Justin hat soeben gezeigt, was er mit Favoriten machen kann.
Ursprünglich wurde am Evo auf Spielhallen-Automaten gespielt. Die erste Ausgabe des Evo-Turniers – damals hiess es noch «Battle by the Bay» – zog gerade mal 40 Spieler an. Doch die Organisatoren, die Brüder Tom und Tony Cannon, konnten es jedes Jahr stetig ausbauen.
Konsolen statt Kästen
Die schweren, sperrigen Kästen mussten bei umliegenden Spielhallen ausgeliehen und transportiert werden. Weil das zu aufwendig wurde, entschlossen sich die Cannon-Brüder ab 2004, das Turnier auf Spielkonsolen durchzuführen.
In der Szene war dieser Schritt umstritten. Doch weil Spielhallen reihum schliessen mussten und viel mehr Leute zu Hause auf der Konsole spielten, vergrösserte der Wechsel auf einen Schlag das potenzielle Publikum.
Harte Tritte
Zurück zu Justin und Daigo: Sie spielen «Street Fighter».
Wie jedes Prügelspiel hat das Game ein einfaches Spielprinzip: Zwei Kämpfer stehen sich links und rechts auf dem Bildschirm gegenüber. Beide haben eine Lebensleiste.
Wird einer von einem Hieb oder Tritt getroffen, verliert er einen Teil dieser Leiste. Ist sie leer, geht der Kämpfer K. o. und wer seinen Gegner zweimal K. o. schlägt, gewinnt den Match.
Justin spielt mit der Figur Chun-Li, einer Dame im blauen Seidenkleid, mit Oberschenkeln wie Baumstämme. Entsprechend hart sind ihre Tritte, mit denen sie Gegner auf Distanz halten kann. Daigo spielt mit Ken, einem blonden Karate-Kämpfer, einem guten Allrounder.
Nadelstich um Nadelstich
Der erste Punkt geht an Daigo: Er drängt Justin in die Ecke und lässt ihm weder Raum noch Zeit, eine kontrollierte Defensive zu entfalten. Doch Justin lässt sich nicht beeindrucken.
Er überrascht Daigo in Runde zwei mit einem frühen Tritt, landet eine harte Spezialattacke und schickt ihn kurz danach trocken auf die Bretter. Der erste Match des Halbfinals wird in der dritten Runde entschieden.
Sie läuft genau so, wie sich das Justin vorgestellt hat: Er eröffnet die Runde mit einem Sprungtritt und verschafft sich einen Vorsprung.
Danach kontrolliert er das Geschehen, lässt sich Zeit, weicht den Attacken von Daigo aus. Dazwischen setzt er immer wieder Nadelstiche. Die Lebensleiste von Daigos Ken wird langsam aber stetig kleiner.
Den Vorsprung verwalten
Dreissig Sekunden vor Schluss ist Daigos Frust greifbar. Was er auch probiert, Justin lässt sich nicht aus seinem Schildkrötenpanzer locken. Wenn trotzdem Treffer landen, hat Justin sofort eine Antwort.
Er hält den Vorsprung, bis die Lebensleiste von Justins Chun-Li bei einem Drittel ist und Daigos Ken fast nichts mehr hat. Daigo steht gerade noch, mit allerletzter Kraft.
«Let‘s go, Justin!»
Alles läuft für Justin. Er kann die dreissig Sekunden verstreichen lassen und seinen Vorsprung über die Zeit retten. Oder er kann einen beliebigen, klitzekleinen Treffer landen und Daigo fällt um.
«Let‘s go, Daigo!», ruft jemand im Publikum. Man will den Offensiv-Meister mit Stil verlieren sehen.
«Let‘s go, Justin!», antwortet einer. Der Amerikaner soll den Sieg gegen den übermächtigen Japaner ins Trockene bringen.
Noch eine Attacke zum Sieg
Noch 26 Sekunden. Und Justin macht etwas, das so gar nicht seinem Stil entspricht. Er will den Kampf beenden, jetzt.
Statt weiter auf eine Gelegenheit für einen kleinen Treffer zu warten, entscheidet er sich für das Spektakel, die Demütigung: Er startet eine extra starke Super-Attacke.
Seine Chun-Li beginnt, Funken zu sprühen und lädt sich auf. In einem Blitz teleportiert sie zu Daigos Ken hin und lässt ihre Oberschenkel sprechen: Tritt um Tritt um Tritt hämmert sie auf Ken ein. Trifft nur einer davon, hat Daigo verloren.
Tritt – abgeblockt.
Tritt – abgeblockt.
Tritt – abgeblockt.
Tritt – abgeblockt.
Tritt – abgeblockt.
Tritt – abgeblockt.
Tritt – abgeblockt!
Justin hat seinen Stick und die Knöpfe losgelassen. Die Attacke läuft automatisch ab. Niemand kann all diese Tritte abblocken – das muss der Sieg sein.
Übermenschliche Präzision
Daigo dagegen muss jeden einzelnen Tritt aktiv blocken, indem er den Stick seines Kontrollers genau im richtigen Moment nach links drückt.
Er hat dafür pro Tritt ein Zeitfenster von nicht einmal sieben Hundertstelsekunden. Sieben mal hat er es bereits geschafft.
2004 war der Begriff «E-Sport» gerade erst entstanden. Heute ist die Disziplin erwachsen: Weltweit erzielt E-Sport fast eine Milliarde Dollar Umsatz pro Jahr.
160 Millionen Menschen schauen regelmässig E-Sport-Wettkämpfen zu, weitere 220 Millionen gelegentlich. Umsatz und Publikum wachsen je nach Schätzung zwischen 20 und 40 Prozent jedes Jahr. Fast ein Drittel des Publikums sind Frauen.
14 Tritte
2004 erleben erst ein paar junge Männer den Kampf der beiden. Und sie wissen, das Chun-Li noch nicht fertig ist. Sie wechselt auf das andere Bein und teilt weiter aus.
Tritt – abgeblockt!
Tritt – abgeblockt!
Tritt – abgeblockt!
Tritt – abgeblockt!
Tritt – abgeblockt!
Tritt – abgeblockt!!
Tritt – abgeblockt!!!
Auch die kurze Verzögerung durch Chun-Lis Beinwechsel hat Daigo nicht aus dem Rhythmus gebracht. Er pariert die Tritte acht bis vierzehn.
Konter zum K. o.!
Im Cal Poly Pomona hält es keinen mehr auf dem Sitz. Mit jedem geblockten Tritt sind mehr Zuschauer aufgesprungen, haben noch lauter gejohlt und geklatscht.
Daigos Ken pariert den letzten Tritt von Chun-Li und kontert.
Sprungtritt – Treffer.
Linke Faust – Treffer.
Jetzt lanciert Daigo seine Super-Attacke:
Knie – Treffer.
Tritt – Treffer.
Tritt – Treffer!
Tritt – Treffer!!
Sprungtritt – Treffer zum K. o.!!!
Chun-Li fällt auf den Rücken, Ken hat gewonnen. Das Publikum explodiert. Das Mikrofon verzerrt. Die Kamera schwenkt ungläubig über die Menge.
Der kommentierende Kameramann schreit: «Unbelievable! Daigo with a full parry!» Seine Stimme überschlägt: «Evolution 2004! It’s madness! It’s unadulterated madness!»
Daigo hat in acht Sekunden einen bereits verlorenen Match gedreht. Er hat in acht Sekunden unter enormem Druck fast zwanzigmal im genau richtigen Moment auf den genau richtigen Knopf gedrückt.
Er hat das, was Justin sonst nie macht, exakt vorausgesehen und hellseherisch mit übermenschlicher Präzision gekontert. Er schlägt Justin und zieht in den Final der Evo 2004 ein.
Der unsterbliche Moment
Dass dieser aussergewöhnliche Moment als «Evo Moment #37» unvergesslich wurde, ist nicht nur der einzigartigen sportlichen Leistung geschuldet. Sondern auch dem Umstand, dass es ein Video davon gab. Das war 2004, zwei Jahre, bevor Google Youtube kaufte – alles andere als selbstverständlich.
Die Cannon-Brüder organisierten nicht nur Turniere, sondern betrieben auch die Website « Shoryuken » (so heisst ein Angriff in «Street Fighter»), ein Nachrichtenportal und Diskussionsforum für Prügelspiel-Fans.
Auf Video festgehalten
Auf dieser Website wurden bereits Videos geteilt, häufig sogenannte Combo Videos, in denen besonders seltene, schwierige oder lustige Kämpfe aus Prügelspielen zusammengestellt wurden. Die Organisatoren der Evo produzierten jedes Jahr ein Video vom Turnier und verkauften es auf DVD – als Souvenir für die Fans.
2004 filmt Seth Killian den Anlass. Es ist seine Stimme, die sich im Video überschlägt. Er probiert etwas Neues aus: Er nimmt das Spiel direkt auf und filmt gleichzeitig die beiden Kontrahenten und das Publikum mit einer einfachen DV-Videokamera.
Dazu kommentiert er aus dem Off hinter der Kamera den Match. Nur wenige Sekunden nach dem «Daigo Parry» ist die Batterie leer, die Kamera schaltet aus. Doch der Moment ist festgehalten.
100 Millionen Views
Seth nennt das Video «Evo Moment #37». Nicht weil es noch 36 bessere Momente gäbe. Sondern um deutlich zu machen, wie viel man verpasst, wenn man nicht an der Evo ist. «… you had to be there», schliesst das Video – es ist als Werbung für das nächste Turnier gedacht.
Das Video zieht seither seine Kreise im Internet. Es wurde bis heute rund 100 Millionen Mal gesehen.
Kein Wunder, denn es zeigt eindrücklich, welches Potenzial im sportlichen Wettkampf mit Games steckt — welche grossartigen Geschichten E-Sport schreiben kann.
Heute, 14 Jahre später
Justin Wong hat bis heute mehr Evo-Titel gewonnen als jeder andere. Er spielt für das E-Sport-Team «Echo Fox».
Daigo Umehara hält den Guiness-Weltrekord für die meisten Titel an «Street Fighter»-Turnieren und gilt als der erste japanische E-Sport-Profi. Er hat den «Daigo Parry» nie mehr geschafft.
Seth Killian ist einer der bekanntesten Kommentatoren der «Street Fighter»-Szene. Der Haupt-Antagonist in «Street Fighter IV» ist nach ihm benannt.
Tom und Tony Cannon organisieren noch immer jedes Jahr ein Evo-Turnier, seit 2005 in Las Vegas. Es ist das grösste und wichtigste der Prügelspiel-Szene.
Dieses Jahr kämpften über 11‘000 Spieler mit. Auf der Streaming-Plattform Twitch schauten über eine Million Menschen live zu.
Den nächsten «Evo Moment» werden nicht nur ein paar hundert Jungs in Südkalifornien miterleben. Er wird im Livestream ein globales Millionenpublikum begeistern.