Der Tag meines Selbstexperimentes ist der Tag, als die Schweiz im Schnee versinkt. Ausnahmezustand in Zürich. Am HB sind Jugendliche mit Schlitten unterwegs.
Auch Spazierkünstlerin Marie-Anne Lerjen ist angezogen, als ginge es hoch zu Berg: Wanderschuhe, Funktionskleidung, Gamaschen.
Wir gehen aber nicht Schneeschuhlaufen. Wir gehen spazieren. «Unser wichtigstes Instrument ist die Aufmerksamkeit. Mit ihr kann ein Ort komplett neu wahrgenommen werden», so die Spazierexpertin.
Lauschen zum Aufwärmen
Zuerst eine Vorübung, um wacher zu werden. Vor uns steht ein Häuschen. Die Aufgabe: Mit dem Rücken an die Wand lehnen, Augen schliessen und zwei Minuten gut lauschen. Auf jeder Seite des Häuschens. «Wie verändert sich die Soundscape?», fragt Lerjen. Wir lehnen uns an, schliessen die Augen.
Das bleibt nicht lange unkommentiert. Ein Mann fragt, ob wir meditieren. Eine zwar freundliche Frage, aber etwa so sinnvoll, wie einen Schlafenden zu wecken, weil man wissen will, ob er schläft.
Egal. Wir lauschen weiter.
In jede Richtung öffnet sich ein neuer Klangraum.
Mit Fuchsohren machen wir uns auf den Spaziergang. Marie-Anne Lerjen hat eine Stadtkarte dabei. Sie packt eine Schere aus und zerschneidet die Karte. Ich ziehe ein Stück. «Das ist ein Quadrant hinter dem HB.» Unser Revier ist heute nicht grösser als ein Quadratkilometer.
Staunen über Kinder und Corona
Marie-Anne Lerjen gibt mir die erste Aufgabe. Der «Staun-Gang». «Staune mal über alles, was du siehst. Wie eine Touristin.»
Ich staune über die Verzierungen am Landesmuseum, über die «Das Museum bleibt geschlossen»- Plakate. Ich staune darüber, dass wir in einer Pandemie spazieren, überhaupt die Pandemie!
Ich staune über die Kinderkrippe, die gerade an uns vorbeiläuft: Die Kinder alle dick eingepackt. Sie sehen aus wie kleine, ungeschickte Zwerge. Sie jauchzen und toben und ein Kind hat seine Jacke verloren.
Ich staune über die Geduld der Betreuerinnen.
Vertrautes scheint mir unbekannt. Meine Bewegungen werden langsamer.
Bäume vertonen und langsam gehen
Nächste Aufgabe: Bäume vertonen. Ich soll einen Ton machen, wenn links von mir ein Baum ist, Marie-Anne Lerjen macht einen Ton bei den Bäumen auf der rechten Seite.
Plötzlich erscheinen die Bäume präsent, fast fordernd: Wie freundliche Kreaturen, die darauf warten, dass man an ihnen vorbeigeht und sie vertont.
Solche Effekte faszinieren die Spazierkünstlerin: «Das Alltägliche verwandelt sich. Zu Fuss gehen ist das ideale Tempo dafür. Wer nur ein bisschen schneller ist, hat verloren!»
Für Marie-Anne Lerjen bedeutet spazieren, wacher auf die Welt zu blicken. «Wo kann ich hochklettern? Was kann man mit einer Treppe alles machen? Hier ist ja gerade eine Treppe!» Die Treppe wird zum unverhofften Aussichtspunkt.
Zum Chamäleon werden
Unverhofft. Das denke ich mir häufig auf diesem Spaziergang. Mit vielem hätte ich nicht gerechnet. Auch nicht, dass wir als nächstes einen Hang hinaufgehen. Aber ultra-langsam. Noch langsamer wäre nur stehenbleiben.
Die ersten Minuten sind hart, mir fehlt die Geduld. Dann denke ich mir: Welches Tier wohl so ein Tempo hat? Vielleicht ein Chamäleon. Also denke ich, jetzt gehe ich halt wie ein Chamäleon.
Plötzlich überholt mich eine Frau in normalem Tempo. Sie rauscht regelrecht an uns vorbei. «Tempo rausnehmen verändert alles», so Lerjen. Auch wie man das Tempo der anderen wahrnimmt: Huere schnell!
Kontrolle abgeben und geniessen
Die Übung hat eine erstaunliche Wirkung: Tempo raus und die Spannung nimmt zu. Wie Slow-Motion in einem Film.
Marie-Anne Lerjen ist viel mit Gruppen unterwegs. Spaziert mit ihnen entlang der Autobahn, auf ausgedienten Tennisplätzen, durch verlassene Gebäude.
Die Spazierkünstlerin sagt, alle können ihre Spaziergänge gestalten. Zum Beispiel mit einem Würfel. «Nach links oder nach rechts? Zwei-, dreimal würfeln und plötzlich ist man an einem unbekannten Ort.»
Ein bisschen Kontrolle abgeben und dann auf ins Unbekannte. Ganz in der Nähe.