- An sehr seltenen Krankheiten, sogenannten «Orphan Diseases», leiden nur sehr wenige Menschen. Es sind oft lebensbedrohliche oder chronisch einschränkende Erkrankungen.
- Für die Pharmaindustrie ist es wirtschaftlich uninteressant, Arzneimittel gegen diese Krankheiten zu entwickeln.
- Wenn es überhaupt Medikamente gibt, sind diese meist sehr teuer. So teuer, dass sich Krankenkassen oft weigern, die Kosten zu übernehmen.
- Doch ist das gerecht? Dürfen Krankenkassen und Pharmafirmen ihr Profitstreben auf dem Rücken von kranken Menschen austragen? Welche Kosten will sich die Gesellschaft für ihre kranken Mitglieder leisten?
- Machen Sie mit bei unserem Gedankenexperiment «Schleier des Nichtwissens».
Allein im dunklen Zimmer
Stellen Sie sich vor: Sie erblicken das Licht der Welt, Menschen strahlen Ihnen entgegen, auf den ersten Blick wirken Sie kerngesund. Doch immer wenn Ihre Mutter Sie nach draussen mitnimmt, haben Sie unerträgliche Schmerzen. Die Schmerzmittel, die man Ihnen verabreicht, sind vollkommen wirkungslos. Da man Ihnen nichts ansieht, glaubt man, Sie simulieren oder brauchen Aufmerksamkeit.
Regelmässig bleiben Sie alleine im dunklen Zimmer, nur dort sind Sie schmerzfrei. Sie fürchten sich, nach draussen an die Sonne zu gehen. Im Garten spielen oder in die Badi gehen ist tabu. Ihren Freunden ist das zu langweilig. Bald spielt niemand mehr mit Ihnen.
Zu Besuch beim Spezialisten
Aufgrund der anhaltenden Leidensgeschichte bringt Sie Ihre Mutter eines Tages zu einem Spezialisten. Endlich erfahren Sie den Grund für Ihr Leiden, das an ganz schlimmen Tagen sogar künstliches Licht in schlimme Pein verwandelt: Er heisst EPP, Erythropoetische Protoporphyrie.
Es ist eine Stoffwechselstörung, die auf einem seltenen, genetischen Defekt beruht und eine äusserst schwere Lichtunverträglichkeit bezeichnet. Die Krankheit ist so selten, dass in der Schweiz gerade mal 60 Leute daran leiden.
Damit gehört EPP zu den so genannten «Orphan Diseases» – und ist eine unter tausend anderen «seltenen Krankheiten». Laut Schätzungen sind in der Schweiz rund 580‘000 Menschen von Krankheiten dieser Art betroffen.
Krankenkasse will nicht zahlen
Ihre Krankheit ist unheilbar, allerdings – klärt Ihr Arzt Sie zögerlich auf – gebe es eine medikamentöse Behandlung für Ihre Beschwerden. Damit könnten Sie endlich einen normalen Alltag führen: draussen Ihre Freunde treffen, Fussball spielen und in Zukunft vielleicht sogar Ihren Wunschberuf Landschaftsgärtner ausüben. Ein Traum.
Der Haken: Vor kurzem hat die australische Pharmafirma Clinuvel Pharmaceuticals, die das Medikament herstellt, dessen Preis verdreifacht. Die Krankenkassen sind nicht länger bereit, den horrenden Preis von 75'000 Franken jährlich zu bezahlen und Ihre Familie kann sich dieses Medikament nicht leisten.
Was ist gerecht?
Finden Sie das gerecht? Dürfen Krankenkassen und Pharmafirmen ihr Profitstreben auf dem Rücken von kranken Menschen austragen? Welche Kosten will sich die Schweizer Bevölkerung für ihre kranken Mitglieder leisten?
Der US-amerikanische Philosoph John Rawls hat sich Fragen dieser Art gestellt. Er entwickelte ein Gedankenexperiment, um ein Verteilungsprinzip auf seine Gerechtigkeit hin zu prüfen: den sogenannten Schleier des Nichtwissens .
In diesem Experiment stellt sich Rawls eine fiktive Entscheidungssituation vor, in welcher sich über jeden Menschen ein Schleier des Nichtwissens legt, wodurch dieser weder über seine Identität, Nationalität, Geschlecht, Gesundheit noch Finanzkraft Bescheid weiss.
Laut Rawls würde eine solche Verschleierung den Menschen dazu befähigen, unparteiische Grundprinzipien der Gesellschaft festzulegen, die für alle fair und gerecht sind.
Wie würden Sie entscheiden?
Die geschilderte Krankheit EPP ist ein Gen-Defekt, es kann also jeden treffen. Wenn Sie nun hinter dem Schleier des Nichtwissens stehen: Finden Sie die Handhabung der Krankenkassen gerecht?
Denken Sie daran: Hinter dem Schleier wissen Sie nicht, ob Sie selber von der Krankheit betroffen sind oder nicht. Wären Sie bereit, steigende Prämien zu bezahlen, damit die Patienten behandelt werden könnten? Und wenn ja, wie viel mehr würden Sie zahlen pro Jahr?
Wo kippt Ihr Gerechtigkeitsverständnis – und wie wägen Sie die Wahrscheinlichkeit mit dem eigenen Nutzen ab?
Beitrag zum Thema
Würden Sie letztlich doch pokern und das Risiko eingehen, nicht eine der kranken Personen zu sein, um im günstigen – und wahrscheinlicheren – Falle mit mehr Geld davon zu kommen?
Was also ist gerecht? Sollten auch sehr teure Medikamente durch die Allgemeinheit finanziert werden? Spielt es eine Rolle, ob die Krankheit angeboren ist oder ob sie durch einen ungesunden Lebensstil erzeugt wurde? Kommt es darauf an, wie leidensvoll die Krankheit ist?
Entscheiden Sie selbst.