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Frauen in Afghanistan Auf verlorenem Posten – aber nicht verstummt

Die Politologin Nahid Shahalimi gibt Afghaninnen eine Stimme, die vor der Machtübernahme der Taliban etwas zu sagen hatten.

Die afghanische Sängerin Aryana Sayeed geht in diesem Sommer auf Tournee in Deutschland und Österreich. Sie ist in den letzten Jahren in Afghanistan zum erfolgreichen Popstar aufgestiegen.

«Aryana war die Stimme der Freiheit», sagt die kanadisch-afghanische Politikwissenschaftlerin Nahid Shahalimi, die das Buch «Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan» herausgegeben hat.

Darin erzählen neben der Sängerin Aryana weitere Frauen aus Politik, Wirtschaft und Kultur ihre Lebensgeschichte und beschreiben ihren Einsatz für eine bessere Gesellschaft. Ihre Botschaft ist klar: «Wir lassen uns nicht einschüchtern.»

Buchhinweis

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Nahid Shahalimi (Hg.): «Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan.» Elisabeth Sandmann Verlag, 2021.

Flucht aus der Heimat

Als die Taliban am 15. August 2021 erneut an die Macht kamen, stand für Aryana Sayeed fest: Sie musste das Land so schnell wie möglich verlassen, war sie doch von ihnen immer wieder mit dem Tod bedroht worden. In letzter Minute ergatterte die Sängerin ein Flugzeug nach Amsterdam.

Eine Frau im langen Kleid in schwarz-rot-grün auf rotem Teppich. Um sie Menschenmasse mit schwarz-rot-grüner Flagge.
Legende: 2017 performte die Sängerin Aryana Sayeed noch an Afghanistans Unabhängigkeitstag in Kabul. Keystone / MASSOUD HOSSAINI

Die Erfahrung der Flucht haben viele Frauen im Buch gemeinsam. In den 1980er-Jahren musste auch Nahid Shahalimi ins kanadische Exil flüchten: Nach dem Tod ihres Vaters stand ihre Mutter mit vier Töchtern ohne schützendes Familienoberhaupt da.

Sie wurde von Verwandten bedroht und enteignet. Heute lebt Nahid Shahalimi in Deutschland und dokumentiert die politische und gesellschaftliche Entwicklung in ihrem Heimatland.

«Es ging um Leben und Tod»

Gleich nach dem 15. August 2021 begann sie, mit Afghaninnen Kontakt aufzunehmen, die sich in den letzten Jahren eine wichtige Position erarbeitet hatten. Die Frauen sollten unter der Herrschaft der Taliban nicht verstummen.

Sie war Tag und Nacht am Telefon und versuchte, mit den Frauen im Gespräch zu bleiben und ihnen zur Flucht zu verhelfen. Auch für Nahid Shahlimi war es eine harte Zeit: «Wir standen unter Schock. Wir mussten Leute rausholen. Es ging um Leben und Tod. Ich schlief nur noch, wenn ich nicht mehr stehen konnte.»

Frau mit Locken im Profil, vor ihr eine Kamera, hinter ihr ein Zimmer mit Teppich.
Legende: Nahid Shahlimi engagierte sich schon vor der Machtübernahme der Taliban für Frauen in Afghanistan. Etwa mit dem Film «We The Women of Afghanistan: A Silent Revolution» (2018). Nahid Shahalimi

Das Buch sollte möglichst schnell veröffentlicht werden. Viele Frauen wollten sich aber zuerst nicht äussern. Nahid Shahalimi leistete Überzeugungsarbeit – und liess die Betroffenen schliesslich selbst schreiben.

Todesdrohungen per SMS

Zu diesen Zeitzeuginnen gehört auch die junge Politikwissenschaftlerin Razia Barakzai. Sie organisierte noch im August Protestaktionen: «Unser Plan war, die Taliban in Kabul mit Frauen zu konfrontieren, die für die Unverletzlichkeit ihrer Rechte kämpfen.»

Sie habe von den Taliban Todesdrohungen per SMS bekommen. Razia Barakzai riskierte mit dem Protest ihr Leben und erfuhr, dass zwei Lehrerinnen getötet wurden – an ihrer Stelle, davon ist sie überzeugt: «Kurz nach diesem Vorfall wurde die Nachricht von meinem Tod in den Medien verbreitet.» Razia Barakzai halte sich in Afghanistan an wechselnden Orten versteckt, sagt Shahalimi.

Eine absehbare Rückkehr

Dass die Taliban mit Gewalt zurückkamen, überraschte Nahid Shahalimi nicht, auch wenn die internationale Gemeinschaft etwas anderes vorgegaukelt habe: «Das Narrativ in den letzten Jahren hiess: ‹Die Taliban haben sich geändert.› Aber wo, bitte, haben sie sich geändert?»

Viele Afghaninnen hätten vor deren Rückkehr gewarnt. Diese habe sich auch an internationalen Konferenzen abgezeichnet, etwa 2018 in Genf. Nahid Shahalimi verfolgte die Konferenz vor Ort: «Sie haben nur über Nachkriegs-Projekte gesprochen. Wir kamen raus und wussten: Das war's. Die kommen, das ist nur eine Frage der Zeit.»

Nahid Shahalimi gibt in ihrem Buch den Frauen ihre Stimme zurück. Und hofft, dass sie bei den nächsten internationalen Afghanistan-Konferenzen eingeladen und gehört werden.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 3.6.2022, 9:03 Uhr

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