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Gesellschaft & Religion Fromm auf die freche Art: Margot Käßmann trotzt den Widerständen

Als unkonventionelle Frau eckte sie immer wieder an. Doch die deutsche Theologin Margot Käßmann blieb sich und ihrem Glauben treu, stieg in atemberaubenden Tempo auf – und stolperte über einen schweren Fehltritt. Heute begeistert sie trotzdem Millionen Gläubige.

«Erlöster müssten die Christen aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte», meinte einst Friedrich Nietzsche. An der mittlerweile 58-jährigen deutschen Theologin Margot Käßmann hätte der Philosoph gewiss mehr Freude gehabt als an den Kirchenmännern seiner Zeit.

Die Stimme von Millionen Christen

Der Aufstieg der promovierten Pfarrerin aus dem Hessischen war atemberaubend. Als junge, hochschwangere Frau wurde sie 1983 in Vancouver ins oberste Parlament des Genfer Weltkirchenrates gewählt. 1994 wurde sie Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, einer Laienveranstaltung, die regelmässig von über 100'000 Menschen besucht wird.

1999 wurde sie als erste Frau Bischöfin der grössten deutschen Landeskirche in Niedersachsen. Bald darauf folgte die Berufung zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – mithin zur obersten Repräsentantin von 25 Millionen Christinnen und Christen.

Vom Boulevard beäugt

Aber auch die Rückschläge der Frau, die sich stets «von Gott getragen» fühlt, rauben den Atem. Von orthodoxen Männern wird sie regelrecht aus dem Weltkirchenrat gemobbt, selbst als Bischöfin noch verweigert man ihr den Handschlag.

Ihre Qualifikation für das Bischofsamt wird dreist angezweifelt mit dem einzigen Argument, eine Frau – und dann noch eine Mutter von vier Töchtern – schaffe sowas nicht.

Eine schwere – mittlerweile längst gut überstandene – Krebserkrankung reisst die junge Bischöfin brutal aus dem Alltagsgeschäft. Der Boulevard fällt über sie her, weil sie sich als Theologin (und Bischöfin!) von ihrem Mann scheiden lässt.

In einem Fernsehgottesdienst kritisiert sie indirekt den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan und erntet einen politischen Aufschrei ohnegleichen.

Eine ganz normale Pfarrerin

2010 trat Margot Käßmann nach einer Alkoholfahrt mit 1,54 Promille als Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende zurück. Von heute auf morgen war sie nicht mehr die mächtigste Frau der Evangelischen Kirche Deutschlands, sondern eine ganz normale Pfarrerin, die sich einen schweren Fehltritt geleistet hatte.

Ein Leben auf der Achterbahn. Käßmann ging in die USA, möglichst weit weg von der Bildzeitung und Spott. Ein theologisches wie politisches Naturtalent, eine, die wie ihr Vorbild Martin Luther King Frömmigkeit und politisches Engagement verband, war vorläufig von der Bildfläche verschwunden.

Unterwegs in Sachen Luther

Doch Margot Käßmann ist immer wieder aufgestanden. Sie ist längst zurück. Im Moment reist sie als Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017 durch die halbe Welt, um möglichst viele der 800 Millionen Protestanten auf den 500. Jahrestag des Anschlags von Martin Luthers Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg einzustimmen.

Gott petzt nicht

Käßmann verehrt Luther. Sie ist gläubig wie er, sie ist auf eine manchmal freche Art fromm und sie ist lebensfroh und zum Beispiel dem Wein nicht abgeneigt. Sie wird von vielen Konservativen regelrecht gehasst, dafür aber von Millionen – vor allem Frauen – verehrt.

Buchhinweis

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Margot Käßmann: Im Zweifel glauben, Herder Verlag, 2015.

Sie füllt jede Kirche und jedes Stadion. Dort erzählt sie gerne eine für sie typische Geschichte: Ein Pfarrer hat in seinem Garten einen Apfelbaum stehen. Als die Nachbarskinder die Äpfel stehlen, stellt er ein Plakat auf: «Gott sieht alles». Darunter schreiben die Kinder: «Aber Gott petzt nicht!».

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