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Gefühle und Moral Unwohlsein – das Gefühl der Stunde?

Für öffentliche Kritik reicht heute oft auch ein schlichtes «Ich fühle mich unwohl» als Argument, etwa bei Debatten um kulturelle Aneignung. Was es mit dem gefühlvollen Trend auf sich hat, erklärt Sternstunden-Moderator Yves Bossart.

Warum beruft man sich in aktuellen Debatten, etwa um kulturelle Aneignung, so gerne auf Gefühle? Heute reden wir generell viel mehr über Gefühle als noch vor 30 oder 60 Jahren. «Es hat eine Psychologisierung der Lebenswelt stattgefunden», sagt Moderator und Philosoph Yves Bossart.

Grund dafür seien neben Sigmund Freud und der 68er-Generation Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung: «Gefühle sind zentral für unser Leben und Entscheiden, nicht so sehr die Vernunft.» Und: Es gibt eine zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft für Fragen der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft. Es finde eine moralische Sensibilisierung statt, so Bossart.

Ist das «Unwohlsein» ein moralisches Gefühl? «In dem Gefühl steckt zumindest ein moralischer Vorwurf, eine moralische Kritik», so Yves Bossart. Ähnlich sei es, wenn jemand sagt, er sei «in seinen religiösen Gefühlen verletzt worden». Das sei ein Vorwurf der Diskriminierung aufgrund von Religion, eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts.

Etwas moralbefreiter ist das Konzept der «Retraumatisierung»: Bei Trigger-Warnungen, zum Beispiel bei Gewaltvideos, oder bei «Safe-Spaces» versucht man in erster Linie sich und andere zu schützen. Hier geht es vor allem um einen psychologischen Mechanismus.

Verletzte Gefühle und Unwohlsein wirken oft als Totschlagargument. Haben Gefühle immer recht? Gefühle können angemessen sein oder nicht. Das wusste schon Aristoteles. «Wenn jemand Angst vor einer harmlosen Spinne hat, ist die Angst unbegründet», so Yves Bossart. «Sie ist also fehl am Platz. Genauso können andere Gefühle fehl am Platz sein.» Gefühle seien also nicht per se richtig.

Haben wir verlernt, unangenehme Dinge auszuhalten? Der Philosoph Byung-Chul Han spricht von einer «Palliativgesellschaft» und meint, wir hätten verlernt, Schmerz auszuhalten, Reibung, unangenehme Zustände. «Da ist vermutlich etwas dran», meint Yves Bossart.

Zudem kann man beobachten, dass eine Ausweitung von Begriffen wie «Trauma», «Opfer» und «Gewalt» stattfindet – von physischer Gewalt, hin zu psychischer und sprachlicher Gewalt. «Aber ich habe auch den Verdacht, dass mit dem Verweis auf die ach so hohe Sensibilität gerne berechtigte moralische Kritik beiseite gewischt wird, etwa bei Rassismus oder Sexismus.»

Was sagt die Philosophie zu Gefühlen und ihrem Stellenwert in moralischen Diskussionen? Es gibt einen langen Streit in der Moralphilosophie zwischen Rationalismus und Sentimentalismus.

Der schottische Philosoph David Hume war bekannter Vertreter eines moralischen Sentimentalismus. Bossart: «Hume meinte, Moral sei primär eine Frage des Gefühls. Nicht die Vernunft, sondern das Gefühl würde erkennen, was moralisch richtig und falsch ist.» So würden uns nach Hume Gefühle wie Mitleid, Abscheu und Empörung zeigen, was moralisch geboten ist.

Ihm gegenüber steht der deutsche Philosoph Immanuel Kant, der dafür argumentierte, dass allein die Vernunft uns zeigen könne, was moralisch richtig und was falsch ist.

Recht hätten beide, findet Yves Bossart. Sowohl die Vernunft als auch unsere Gefühle würden einen Kompass für die Moral bieten. «Wir sollten versuchen, beide miteinander in Einklang zu bringen. Manchmal gibt uns das eigene Empfinden einen Wink in die richtige Richtung – manchmal ist es das Nachdenken.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 25.08.2022, 17:10 Uhr ; 

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