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Gegen die digitale Isolation Smalltalk und Zugehörigkeit: Warum wir analoge Orte brauchen

Sozialpsychologe Harald Welzer kritisiert die digitale Isolation, die Menschen in «Display-Gefängnisse» sperrt. Er plädiert für die Rückbesinnung auf Orte anlassloser Treffen. Glück, Demokratie- und Handlungsfähigkeit liegen für ihn in der analogen Welt – und im kollektiven Miteinander.

Harald Welzers «guter Ort» ist zum Beispiel das «Diener», eine über 100 Jahre alte Berliner Kneipe. Dieser Laden habe sich nie verändert: gleiche Einrichtung, gleiche Speisekarte mit Bratkartoffeln und Buletten, alles ohne «Gedöns».

Bar mit Barkeeper und Gästen in einem gemütlichen Ambiente.
Legende: Flanieren, verweilen, interessante Leute treffen: Das urige Berliner Lokal «Diener» ist für den Psychologe Harald Welzer ein «guter Ort». IMAGO / David Heerde

Die Kneipe gehört laut sozialwissenschaftlicher Theorie zu den sogenannten «dritten Orten»: Orte fernab des Zuhauses oder des Arbeitsplatzes. Auch Sportplätze, Bibliotheken oder Vereinslokale gehören dazu. Es sind Orte, wo man – so Welzer – gewissermassen rollenlos, oft auch anlasslos, unterwegs sein darf.

Raus aus den Display-Gefängnissen

Man muss nicht «performen», ist einfach da. Scheinbar belanglose Gespräche schaffen ein Gefühl von Zugehörigkeit und wirken dem Eindruck entgegen, die Welt sei nur voller Hass und Konflikte. Doch genau diese Orte seien in Gefahr: Die digitale Isolation treibe die Individuen in «Display-Gefängnisse» und reduziere den Kontakt zur Aussenwelt.

Mann mit Anzug und Brille, hält Hand nachdenklich ans Kinn und schaut nach links.
Legende: Harald Welzer, geboren 1958, ist Sozialpsychologe, Bestsellerautor und Gesellschaftskritiker. Als Direktor von «Futur zwei» setzt er sich für eine zukunftsfähige Gesellschaft ein. IMAGO / Horst Galuschka

Welzer sieht die «Erosion des Gemeinsamen» als Gefahr für Demokratie und Freiheit. Orte anlassloser Vergemeinschaftung förderten das «lebendige Soziale» und stärkten gesellschaftlichen Zusammenhalt.

An solch dritten Orten oder bei informellen Treffen entstünden Gespräche jenseits von Filterblasen und Konflikt-Arenen. Das sei wichtig für Meinungsvielfalt.

Gruppe Jugendlicher mit Smartphones, sitzend.
Legende: Die Beziehung zur Welt: Wenn sie nur noch isoliert auf dem Handy-Display stattfindet, anstatt in echt gelebt zu werden, kann das vielfältige Risiken bergen. IMAGO / allOver-MEV

Harald Welzer betont, dass die Erosion solcher Orte – durch Digitalisierung, Kommerzialisierung oder Zeitdruck – die Demokratie schwäche, weil sie die «soziale Infrastruktur» zerstört, die wiederum Vertrauen und Solidarität ermöglicht.

Buchhinweis

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Harald Welzer: «Das Haus der Gefühle». Verlag S. Fischer, 2025.

Digitale Netzwerke würden das «wirkliche, analoge Leben» und die menschliche Notwendigkeit sozialer Interaktion nicht ersetzen, da Menschen von Natur aus soziale Wesen und als Einzelne «vollkommen unvollständig» seien. Die «Weltbeziehung» werde durch die Internetwirtschaft via Display «geliefert» statt selbst hergestellt.

«Wie das Lausen bei den Affen»

An guten Orten können Menschen ohne Zweckbindung zusammenkommen, scheinbar banalen Smalltalk führen und unverhoffte, unverfügbare Glücksmomente erleben, die ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln.

Welzer sieht dies als wichtigen Gegenpol zur vorherrschenden negativen Wahrnehmung der Gesellschaft und als wertvolle Ressource für soziale Kohäsion. Smalltalk, vergleichbar mit dem «Lausen bei den Affen», sichere die Teilnahme an einer gemeinsamen Welt und fördere basale Freundlichkeit im Alltag.

So beschreibt es auch die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa: Wir fühlen uns verbunden, berührt und antwortfähig gegenüber der Welt. Das Mitschwingen mit der Welt entsteht in Momenten, in denen wir nicht nur funktionieren oder konsumieren, sondern echte Erfahrung machen.

Solidarisch und selbstwirksam

Welzer erzählt dazu auch gerne das Beispiel von Jugendlichen, die sich ein Café wünschten, wo man, wenn man genügend Geld hat, an der Kasse zwei Kaffees bezahlen konnte: einen für sich und den anderen als Gutschein für jemanden, der es sich nicht leisten kann.

Auf diese Weise wird aus dem Café ein «guter Ort» – weil man sich dort selbstwirksam erleben darf. Das Schöne am Traum vom Café als guten Ort ist: Er hat sich an diversen Orten bereits erfüllt.

SRF 1, Zimmer 42, 24.11.2025, 23:10 Uhr

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