Harald Welzers «guter Ort» ist zum Beispiel das «Diener», eine über 100 Jahre alte Berliner Kneipe. Dieser Laden habe sich nie verändert: gleiche Einrichtung, gleiche Speisekarte mit Bratkartoffeln und Buletten, alles ohne «Gedöns».
Die Kneipe gehört laut sozialwissenschaftlicher Theorie zu den sogenannten «dritten Orten»: Orte fernab des Zuhauses oder des Arbeitsplatzes. Auch Sportplätze, Bibliotheken oder Vereinslokale gehören dazu. Es sind Orte, wo man – so Welzer – gewissermassen rollenlos, oft auch anlasslos, unterwegs sein darf.
Raus aus den Display-Gefängnissen
Man muss nicht «performen», ist einfach da. Scheinbar belanglose Gespräche schaffen ein Gefühl von Zugehörigkeit und wirken dem Eindruck entgegen, die Welt sei nur voller Hass und Konflikte. Doch genau diese Orte seien in Gefahr: Die digitale Isolation treibe die Individuen in «Display-Gefängnisse» und reduziere den Kontakt zur Aussenwelt.
Welzer sieht die «Erosion des Gemeinsamen» als Gefahr für Demokratie und Freiheit. Orte anlassloser Vergemeinschaftung förderten das «lebendige Soziale» und stärkten gesellschaftlichen Zusammenhalt.
An solch dritten Orten oder bei informellen Treffen entstünden Gespräche jenseits von Filterblasen und Konflikt-Arenen. Das sei wichtig für Meinungsvielfalt.
Harald Welzer betont, dass die Erosion solcher Orte – durch Digitalisierung, Kommerzialisierung oder Zeitdruck – die Demokratie schwäche, weil sie die «soziale Infrastruktur» zerstört, die wiederum Vertrauen und Solidarität ermöglicht.
Digitale Netzwerke würden das «wirkliche, analoge Leben» und die menschliche Notwendigkeit sozialer Interaktion nicht ersetzen, da Menschen von Natur aus soziale Wesen und als Einzelne «vollkommen unvollständig» seien. Die «Weltbeziehung» werde durch die Internetwirtschaft via Display «geliefert» statt selbst hergestellt.
«Wie das Lausen bei den Affen»
An guten Orten können Menschen ohne Zweckbindung zusammenkommen, scheinbar banalen Smalltalk führen und unverhoffte, unverfügbare Glücksmomente erleben, die ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln.
Welzer sieht dies als wichtigen Gegenpol zur vorherrschenden negativen Wahrnehmung der Gesellschaft und als wertvolle Ressource für soziale Kohäsion. Smalltalk, vergleichbar mit dem «Lausen bei den Affen», sichere die Teilnahme an einer gemeinsamen Welt und fördere basale Freundlichkeit im Alltag.
So beschreibt es auch die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa: Wir fühlen uns verbunden, berührt und antwortfähig gegenüber der Welt. Das Mitschwingen mit der Welt entsteht in Momenten, in denen wir nicht nur funktionieren oder konsumieren, sondern echte Erfahrung machen.
Solidarisch und selbstwirksam
Welzer erzählt dazu auch gerne das Beispiel von Jugendlichen, die sich ein Café wünschten, wo man, wenn man genügend Geld hat, an der Kasse zwei Kaffees bezahlen konnte: einen für sich und den anderen als Gutschein für jemanden, der es sich nicht leisten kann.
Auf diese Weise wird aus dem Café ein «guter Ort» – weil man sich dort selbstwirksam erleben darf. Das Schöne am Traum vom Café als guten Ort ist: Er hat sich an diversen Orten bereits erfüllt.