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Gender Disappointment Aber ich wollte doch einen Jungen!

Endlich schwanger – dann der Dämpfer: Statt des gewünschten Jungen ist es ein Mädchen. Zwei Mütter erzählen über diese Enttäuschung namens Gender Disappointment. Ein Tabuthema, das oft mit Schuld und Scham behaftet ist.

«Es ging mir in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten sehr gut», sagt Lena (Name von der Redaktion geändert). Die Mittdreissigerin ist eine aufgeschlossene, lebenslustige Frau: «Mir war nie übel, aber den Wein und das rohe Fleisch habe ich schon etwas vermisst.»

Doch als ihr die Frauenärztin das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes verkündete, brach für Lena eine Welt zusammen. Wenn sie sich als Mutter vorgestellt hatte, dann immer als Mutter eines Sohnes. «Plötzlich hat sich das Kind in mir fremd angefühlt, das war sehr beängstigend.»

Ein Ultraschallgerät wird an den bauch einer Schwangeren gehalten.
Legende: Beim Ultraschall kam die Hiobsbotschaft: Das Geschlecht des Kindes entspricht nicht der eigenen Wunschvorstellung. Getty Images/Universal Images Group

Enttäuschung kommt oft sehr überraschend

Gender Disappointment heisst diese Enttäuschung oder Traurigkeit, die im schlimmsten Fall in einer Depression endet oder die Verbindung zum Kind kappen kann. Annina Mäder ist Psychologin und spezialisiert auf Frauen rund um die Geburt. «Manchen Frauen ist im ersten Moment meist gar nicht bewusst, womit ihr Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht zusammenhängt. Deshalb kommt diese Enttäuschung für sie oft sehr überraschend und heftig.» Diese starken negativen Gefühle können darauf hinweisen, dass etwas Ungelöstes unter der Oberfläche schwelt, das man genauer anschauen sollte.

Offizielle Zahlen zu Gender Disappointment gibt es nicht. In den letzten fünf Jahren hat die Berner Psychologin in ihrer Praxis zehn Frauen mit diesem Problem begleitet: «Besonders viele sind das nicht. Aber ich bin überzeugt, dass es viel mehr Frauen betrifft als wir meinen.» Es gebe bestimmt auch Männer, aber bisher sei noch keiner zu ihr gekommen.

Scham und Schuldgefühle

Gender Disappointment ist ein Tabuthema, findet die Psychologin: «Es braucht für die Frauen viel Überwindung, um darüber zu sprechen. Ich bin oft die Einzige, der sie sich anvertrauen. Ich erlebe immer wieder grosse Erleichterung, wenn sie damit auf Verständnis stossen und hören, dass es dieses Phänomen gibt und sie damit nicht allein sind.»

Diese Gefühle sind nicht gegen das Kind im Bauch gerichtet.
Autor: Annina Mäder Psychologin

Typischerweise folge auf die Enttäuschung Schuld und Scham, beobachtet Annina Mäder. So hat es auch Lena erlebt. Ihren Eltern hat sie nichts erzählt. Aber die Scham war nicht der grösste Schmerz, sondern die Schuld: «Wie unfair ist das meinem eigenen Kind gegenüber?!», hat sie sich immer wieder vorgeworfen.

In diesen Momenten hat die Psychologin die Erfahrung gemacht, dass es entlastend sein kann, aufzuzeigen: «Diese Gefühle sind nicht gegen das Kind im Bauch, sondern sie passen nicht mit der Wunschvorstellung zusammen. Nun geht es darum, diese Wunschvorstellungen loszulassen.»

Gründe für einen Geschlechterwunsch sind vielfältig

So individuell die Betroffenen sind, so unterschiedlich sind die Ursachen für Gender Disappointment. Der naheliegendste Grund ist für Annina Mäder die Identifikation mit sich selbst: «Eine Frau wünscht sich vielleicht deshalb eine Tochter, weil sie meint, dass sie sich mit ihrem Geschlecht besonders gut auskennt. Sie findet es einfacher, das eigene Geschlecht durchs Leben zu begleiten.»

Auch die Erfahrung, die man als Kind gemacht hat, können ausschlaggebend sein: «Wenn man mit vielen Frauen aufgewachsen ist und man Angst hat, nicht zu wissen, wie man mit einem Jungen umgeht.» Auch das Verhältnis zu den eigenen Eltern kann ein Grund für einen starken Geschlechterwunsch sein.

Ein Junge und sein Vater auf dem Rasen.
Legende: Wenn man als Sohn ein gutes Verhältnis zu seinem Vater hatte, wünscht man sich womöglich ein ähnliches Verhältnis für sich und sein eigenes Kind. IMAGO / YAY Images

So war es bei Lena: «Die Frauenbeziehungen in meiner Familie haben diese Wunschvorstellung mitgeprägt. Ich habe mir die Beziehung zu einem Sohn einfacher vorgestellt als diejenige zu einem Mädchen. Eben keine verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung. Als wären Jungs befreit von solchen Schwierigkeiten.»

Gender Disappointment und die Genderfalle

Auch Sophie, ebenfalls eine Mittdreissigerin, weitgereist und weltoffen, kennt eine weniger starke Ausprägung von Gender Disappointment: «Für mich und meinen Mann war es kein Schock – wir waren uns bewusst, dass es auch ein Bub werden könnte.»

Wir werden in diesem Moment mit ganz vielen stereotypen Geschlechterbildern konfrontiert.
Autor: Dominique Grisard Historikerin

Aber der Gedanke an einen Sohn fühlte sich nicht natürlich an. Ein zweites Mädchen wäre ihr lieber gewesen: «Auf dem Spielplatz mit unserer Tochter haben ich und mein Mann oft Buben beobachtet. Wir haben uns immer wieder gesagt: Wir finden Mädchen viel lustiger, schlauer, gewiefter. Buben sind uns eher als – übertrieben gesagt – nerviger, rauer vorgekommen.»

Zwei Jungs auf dem Spielplatz.
Legende: Jungs sind wild, Mädchen sind brav? Die Idee davon, wie Jungs und Mädchen scheinbar sind, prägen auch unsere Wunschvorstellungen nach dem Geschlecht des eigenen Kindes. IMAGO / JOKER

Sophie und Lena sind reflektierte Frauen – und doch tappen sie hier in die Genderfalle. Wie kommt das? Antworten darauf hat Dominique Grisard. Sie ist Geschlechterforscherin an der Uni Basel. «Gender Disappointment erstaunt mich nicht», sagt die Historikerin. «Das Phänomen zeigt klar, dass wir nach wie vor Menschen einteilen in Mädchen und Jungs, in Frauen und Männer. Und dass wir diesen beiden Geschlechtern – es sind meistens nur zwei – unterschiedliche Wertigkeiten und Vorstellungen zuschreiben.»

Stereotype Geschlechterbilder

Besonders stark werden diese Vorstellungen dann, wenn wir uns mit der Kinderfrage beschäftigen, ergänzt Grisard. «Wir werden in diesem Moment schnell konfrontiert mit vielen stereotypen Geschlechterbildern.» Mädchen heisst: rosa, Prinzessin, brav. Jungs heisst: hellblau, Fussball, wild.

Diese stereotypen Vorstellungen kommen nicht von ungefähr, sie sind tief in unseren Köpfen verankert: durch Erlebnisse aus der Kindheit, durch die Konsumkultur. Spielsachen und Spielzeugprospekte oder Verpackungen bilden oft stereotype Geschlechterbilder ab: Mädchen in Rosa, Jungs in Blau. Das Mädchen steht hinter dem Herd der Holzküche, der Bub spielt mit der Eisenbahn. 

Oder, so Dominique Grisard: «Häufig wird in TV-Spots eine ideale Vater-Sohn-Beziehung abgebildet. Ich denke da an eine Luxusuhren-Werbung, wo der Vater die Uhr dem Sohn vererbt. Es sind Bilder, mit denen wir ständig konfrontiert sind. Deshalb erstaunt es nicht, dass werdende Väter diese Art von Wunsch haben.»

Am Ende die Versöhnung 

Zurück zu Sophie und Lena. Durch Gender Disappointment sah sich Lena noch während der Schwangerschaft gezwungen, endlich mal genau hinzusehen – gemacht hat sie das in Gesprächen mit einer Psychologin: «In der Therapie kam so einiges aus meiner Familiengeschichte hervor», sagt Lena. «Was hat mich so geprägt, dass ich solche Gefühle habe? Wo sind diese Muster, die ich unhinterfragt übernehme? Diese Muster wurden plötzlich sichtbar und verständlich. Jetzt habe ich die Möglichkeit, diese bewusst zu durchbrechen.»

Heute sagt sie: «Das Geschlecht meines Kindes ist genau das Richtige.» Bei Sophie hat es die Geburt gebraucht. In dem Moment, als ihr Sohn auf ihrer Brust lag, waren für sie das Geschlecht und all die negativen Gefühle vergessen.

Radio SRF 3, Input, 18.09.2022, 20:03 Uhr

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