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Geschichte des Konsums Das Ding mit dem Haben-Wollen

Warum wollen wir immer mehr haben? Weil man uns vorgaukelt, es mache uns glücklicher. Das ist nur die halbe Wahrheit, sagt der Konsum-Historiker.

Die Diskussion am Familientisch wird immer lauter: Warum braucht das Kind schon wieder ein neues Mobiltelefon? Das jetzige ist doch erst zwei Jahre alt! Und neue Jeans und neue Turnschuhe stehen auch noch auf der Wunschliste!

Oft enden die Diskussionen im Lamento über die Konsumgesellschaft und Konzerne. Verführen sie nicht unsere Kinder dazu, mehr zu wollen, als sie eigentlich benötigten?

Zeitreise durch die Zivilisationsgeschichte

Der Historiker Frank Trentmann gibt in seinem 1000 Seiten-Werk «Die Herrschaft der Dinge» keine Tipps an verzweifelnde Eltern. Aber er erweitert unseren Horizont dafür, was Konsum für Individuen und Gesellschaft bedeutet.

Er erklärt, woher das «Immer-mehr-haben-Wollen» kommt und zeigt, warum Konsumverzicht mit Blick auf die geschichtliche Dynamik eine zu einfache Antwort ist.

Buchhinweis

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Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge: Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. DVA, 2018.

Dafür macht der Autor eine Zeitreise durch die letzten 500 Jahre Zivilisationsgeschichte auf vier Kontinenten. Die Lektionen, die wir lernen: Die Konsumgesellschaft ist keine Erfindung der Neuzeit und des Kapitalismus. Konsumbegeisterung und Konsumkritik haben eine lange Tradition.

Konsum ist nicht nur eine wirtschaftliche Funktion, sondern hat gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen. Und: Konsum prägt seit Jahrhunderten immer mehr unser Sein.

Tee und Tabak, Schokolade und Stoffe

Für Frank Trentmann bildet zwar ein wirtschaftlicher Umstand – nämlich die erste Globalisierungswelle zwischen 1500 und 1800 – den Startschuss für die Konsumkultur: eine immer grössere Verfügbarkeit von Waren aller Art.

Anfangs waren das exotische Güter wie Tabak, Tee und Schokolade, später edle Stoffe, Porzellan und anderes Geschirr. Heute ist daraus das unüberschaubare Warenangebot geworden – wie die Modellpalette der edlen Sneakers.

Und die Konsumkultur artet bisweilen in einen «Hyperkonsum» aus, mit Kaufhaus-Hysterie am Black Friday.

«Das materielle Selbst»

Dabei hat sich das ständig weiterentwickelt, was der Autor das «materielle Selbst» nennt: «Dinge wurden als fester Bestandteil menschlicher Identität und menschlichen Handelns erkannt.»

Das Sammeln, das Handwerk oder die Wohnungseinrichtung seien Elemente einer neuen Wertschätzung der Rolle von Dingen in der Entwicklung des Selbst geworden, schreibt Trentmann. «Das Selbst war nicht von der materiellen Welt abgeschottet. Es wurde von den Dingen berührt und geformt, während die Dinge ihrerseits von Charakter und Kultur des Individuums geprägt wurden.»

Kreislauf und Kollaps

Was lernen wir daraus? Neben der «Verdinglichung des Menschen», um es mit Karl Marx zu sagen, treiben wir als Individuen und Gesellschaft auch die «Vermenschlichung der Dinge» immer weiter voran.

Einfach auf Konsum zu verzichten: Dafür ist dieser Prozess zu weit fortgeschritten. Vielmehr geht es darum, bewusster und souveräner mit den Dingen umzugehen. Nur schon, weil uns der materielle Kreislauf in den ökologischen Kollaps führen könnte.

Statt der «Herrschaft der Dinge» bräuchte es eine Herrschaft «über» die Dinge. Das macht die Diskussion am Familientisch zwar nicht einfacher, aber lässt mehr Spielraum für Kompromisse zu.

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