Meine Schwester war eine Prinzessin. Ich eine Sau. Oder ein Schweinchen. Detail.
Es war 1992 und Fasnacht in unserem kleinen, katholischen Aargauer Dorf. Man könnte meinen, es gab Streit ob dieser Rollenverteilung in Kostümfragen. Oder Groll. Oder Eifersucht.
Nichts davon war der Fall. Meine Schwester war mein grösstes Vorbild und ich wohl einfach sauzufrieden, dass ich dabei sein durfte.
Schicksalsgemeinschaft Geschwister
«Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist eine der längsten Beziehungen, die wir haben», sagt Psychologe Jürg Frick. Er ist einer der wenigen, der zu Geschwisterbeziehungen forscht.
Es gibt wenig Studien, wenig Bücher zum Thema. Eigentlich erstaunlich, denn fast 80 Prozent der Kinder in der Schweiz haben Geschwister.
Meine Schwester heisst Bianca. Sie ist zwei Jahre älter als ich. Gemäss den Erzählungen unserer Eltern hat sie sich ab Tag eins, als ich zur Familie stiess, gefreut. Angst, dass jemand sie vom Thron stossen könnte? Fehlanzeige.
Aussuchen können wir uns diese Weggefährten nicht. Wir werden zusammengewürfelt, leben unter einem Dach, in zwangsläufigem Kontakt – mit der Erwartung, eine innige Bindung aufzubauen.
Manche stehen sich sehr nahe, andere überhaupt nicht. Manche fühlen sich verstanden, andere betrogen, ständig verglichen oder verantwortlich. Geschwisterbeziehungen wirken sich auf unsere Art die Welt zu verstehen aus, unsere Art Beziehungen zu führen. Von Partnern kann man sich trennen, von Geschwistern nicht.
«Selbst wenn kein Kontakt besteht oder ein Geschwister verstirbt, kann es in der Familie eine grosse Rolle spielen, indem viel über die Person geredet wird», bestätigt Jürg Frick.
Grosse Schwester, grosse Ikone
Meine Schwester war meine engste Komplizin in meiner Kindheit. Wir hatten die gleichen Gegner: die eine Tante und ihre mühselige Fragerei an Weihnachten, das gleiche kleine Dorf, das uns einengte und diesen genau gleich hässlichen, längeren zweiten Fusszeh.
Alles, was sie tat, wollte ich auch tun.
Sie fing an mit Geräteturnen. Ich auch. Sie fing an, zu reiten. Ich auch. Sie begann die Schule, lernte das Lesen. Also wollte auch ich im Kindergarten lesen lernen. In den ersten beiden Disziplinen bin ich kläglich gescheitert. Lesen und Schreiben aber: Das war meins.
Das war doch ganz anders!
«Dir ist alles immer so leichtgefallen in der Schule. Aber auch im Leben», sagt meine Schwester heute am Telefon. Ich stutze. Interessant, dass sie das denkt. Für mich war sie immer die grosse Schwester, die alles konnte.
Ich rief sie an, um für diesen Artikel über unsere Beziehung zu reden. Anfangs etwas ungewohnt, aber eigentlich schön. Gehadert mit der Rolle als grosse Schwester habe sie nie. Wir haben uns als Gemeinschaft begriffen. Ich habe mich von ihr immer unterstützt gefühlt.
Heute würde ich unsere Beziehung als unaufgeregt bezeichnen. Wir stehen uns nahe. Schicken uns Blumen, wenn es uns schlecht geht. Wir feiern jeden Geburtstag zusammen, ich durfte ihre Trauzeugin sein. Wir wohnen aber weit weg voneinander, haben andere Karrieren, sehen uns nicht mehr ähnlich, haben jetzt einen anderen Freundeskreis.
«Du interessierst dich viel mehr für Politik», sagt sie. «Darauf ist Papi immer so stolz – dass er mit dir über alles debattieren kann.» Es berührt mich, was sie sagt.
«Du hattest den Drang nach Abenteuer, hast es gewagt, als Teenie ein Jahr nach Amerika zu gehen. Das hätte ich nie geschafft!», so Bianca. Ich sei wilder gewesen. Selbstständiger.
Für jeden ein passendes Klischee
Ist das jetzt typisch Erstgeborene und typisch jüngeres Geschwister? Solche Klischees halten sich hartnäckig.
Ja, ich hatte mehr Skiunfälle als meine Schwester. Mehr komische Dates und mehr Freunde auf der ganzen Welt. Sie hatte (und hat) mehr Geld, mehr Geduld für Bastelsamstage mit unserer Mutter, mehr Tierliebe und mehr Zukunftsvisionen.
Erstgeborene seien also verantwortungsbewusst, eher konservativ. Einzelkinder reif, aber auch verwöhnt. Sandwichkinder, die Mittleren, die geborenen Diplomaten.
Diese Vorstellungen gehen zurück auf die Forschung des österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler anfangs des 20. Jahrhunderts. Er vermutete, dass die Position in der Geschwisterreihenfolge die Persönlichkeit beeinflusst.
Grobe Vereinfachung
Belegt werden konnten diese Thesen nicht. Die Frage stiess aber weiterhin auf grosses Interesse. So stellte in den 1990er-Jahren der US-amerikanische Entwicklungspsychologe Frank Sulloway die Nischentheorie auf. Spielt die Erstgeborene gut Klavier, übt sich die Zweitgeborene lieber im Bergsteigen.
Sein Argument: Ein Kind will möglichst viel Aufmerksamkeit und Anerkennung der Eltern. Wenn es eine freie Nische besetzt, ist die Konkurrenz kleiner. Ergo: grössere Chancen für Lob.
Aber die Realität ist komplexer. Ein Kind und das System Familie ist von vielen Faktoren beeinflusst. Etwa: ob Dorf oder Grossstadt. Ob Junge oder Mädchen. Ob Grossfamilie oder Kleinfamilie. Ob viel oder wenig Altersunterschied zwischen Geschwistern. Ob Geld im Überfluss oder an der Armutsgrenze. «Es bedeutet, dass man letztlich immer den Einzelfall anschauen muss», sagt auch Psychologe Frick.
Gegensatz Grossfamilie
Ich bin behütet aufgewachsen, durfte allen Hobbys nachgehen. Es gab Raum für Individualisierung unter uns Geschwistern. Was, wenn dies nicht so ist?
Eine Freundin erzählt mir von ihrer Kindheit in einer sehr religiösen Grossfamilie. Sie ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen, die Ressourcen waren enorm knapp, die Mutter massiv überfordert. «Es war ein ständiger Kampf, wer jetzt in der Gunst der Eltern stand», sagt sie. Es gab viele Strafen, auch Gewalt.
So aufzuwachsen, hinterlässt andere Prägungen. Es habe Therapie gebraucht, erzählt sie. Längst nicht alle alten Rivalitäten seien bereinigt. Die Aufarbeitung funktioniere nur mit denen, die auch daran interessiert sind. Eine ihrer Schwestern nennt sie aber bis heute ihre beste Freundin.
Gerade weil das Familiengefüge belastet war, rückten die Kinder noch näher zusammen. Teils war es fast eine Abhängigkeit. «Als ich auszog, war das ein Drama für meine Geschwister. Heulend sassen wir nebeneinander, dachten, wir könnten nicht mehr existieren, weil eine fehlte», erzählt sie.
Eher eine lose Einheit
Als meine Schwester auszog, war ich relativ okay damit. In unseren Zwanzigern haben wir uns anders entwickelt. Hatten nicht mehr einen so festen Platz im neuen Leben, das sich die andere aufbaute.
Gemäss Fachleuten ist es typisch, dass Geschwisterbeziehungen lose sind während der «Rushhour» des Lebens: fester Partner, vielleicht eigene Kinder, neuer Wohnort, Karriere.
Ein Jahr lang, Anfang 20, hatten wir sozusagen keinen Kontakt. «Warum eigentlich?», wir konnten es beide am Telefon nicht mehr wirklich sagen. Ob wir heute Kontakt hätten, wären wir nicht Geschwister? «Mhh», sagt Bianca. Ich weiss es auch nicht.
Ist meine Schwester die allererste Person, die ich anrufe, wenn ich einen wirklich beschissenen Tag hatte? Nicht zwingend. Beim Schreiben merke ich, ich wünschte, es wäre anders.
Überladene Beziehung
Beziehungen zu Geschwistern sind aufgeladen mit Erwartungen. Davon erzählt auch eine andere Freundin von mir.
Ihre Halbschwester hat sich in ihren Zwanzigern entschieden, nicht mehr Teil der Familie sein zu wollen und den Kontakt abgebrochen. Seit mehr als zehn Jahren hat sie sie weder gesehen noch von ihr gehört.
Scham war ein grosses Thema. «Leute hinterfragen es sehr, wenn man keine Beziehung zu seinem Geschwister hat.» Zig Male wurde sie ermutigt, sie solle sie doch kontaktieren. Sie tat es nicht.
Man muss nicht Opfer seiner Familienverhältnisse bleiben.
Blut sei nicht immer dicker als Wasser. «Ich habe gelernt, dass es mehr darum geht, ob und wie Leute für mich da sind und weniger, wie sie in mein Leben gekommen sind», sagt sie.
Sie sei nicht traurig, dass sie keine Beziehung mehr zu ihrer Schwester hat. «Aber ich bin traurig darüber, dass niemand in meinem Leben diese einzigartige Rolle einnimmt. Das hätte ich sehr gerne.»
Aus alt mach neu
Mir wird klar, dass ich die Beziehung zu meiner Schwester wieder bewusster leben will. Sie mehr pflegen will. Sie mit neuen Erinnerungen und Lachern aufladen will.
Auch Psychologe Jürg Frick betont, dass man im Alter neue Rollen einnehmen kann, sich mit Geschwistern austauschen und sehen, dass jeder seine eigene Sicht auf die Familiengeschichte hat. «Man muss nicht Opfer seiner Familienverhältnisse bleiben.»
Als Erwachsene ist die Beziehung zu Geschwistern freiwillig, man entscheidet sich dafür. Die Beziehung richtet sich neu aus – Brüder und Schwestern lernen sich als selbstständige Individuen kennen.
Nicht nur kennt mich meine Schwester schon am längsten. Mit ihr werde ich auch den längsten Kontakt haben. Wenn alles seinen natürlichen Lauf nimmt, werde ich mit ihr unsere Eltern betrauern, wenn sie sterben. Ein Schmerz, den niemand ausser ihr so nachfühlen können wird.
Ich bin froh, dass ich sie habe.