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Auf dem Boden sind verschiedene elektronische Geräte - vom Computer über Festplatten bis zu USB-Sticks säuberlich nach Grösse angeordnet.
Legende: Die Installation «Fake equipment» des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. flickr / Renata Davidson

Gesellschaft & Religion Chinas erfinderische Lust an der Kopie

Wer noch glaubt, China imitiere plump westliche Produkte, der irrt. Das sagt Filmregisseur Jürg Neuenschwander, der einen Film zum Thema gedreht hat. Imitieren ist in China längst zu einem kreativen Akt geworden, von dem auch westliche Firmen profitieren – wenn sie es denn geschickt anstellen.

Herr Neuenschwander, in ihrem neuesten Film thematisieren Sie die Lust der Chinesen am Imitieren. Um welche Art von Kopien geht es genau?

Da ist zum Beispiel ein Elektroingenieur, der bei Panasonic in der Forschung gearbeitet hat. Eines Tages entdeckt er eine Nische im chinesischen Markt. Er beschliesst, einen High-End-Verstärker zu bauen, ausgehend von einem japanischen Verstärker der Spitzenklasse. Er findet den Bauplan, der zwar lückenhaft ist, den er aber dank seiner Kenntnisse ergänzen kann.

Zur Person

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Jürg Neuenschwander ist ein Schweizer Filmregisseur und Filmproduzent. Bekannt geworden ist er mit Filmen wie «früher oder später», «Kräuter und Kräfte» und «Q Begegnungen auf der Milchstrasse». Er lehrt Film an der Hochschule der Künste Bern und der Tongji-Universität Shanghai in China.

Statt die teuren Kondensatoren des Originalgeräts einzubauen, treibt er auf einem der weltgrössten Plätze für Elektroschrott hochwertige schwedische Kondensatoren auf. Diese waren in Medizinalgeräten eingebaut, ihre Lebensdauer beträgt noch gut zwanzig Jahre. Als audiophiler Ingenieur stimmt er dann den Klang noch auf den Hörgeschmack der Chinesen ab. Am Schluss ist ein modular aufgebautes Gerät entstanden, das er über einen Webshop für 800 Dollar anbietet. Das Originalgerät kostet 20‘000 Dollar.

Es stimmt also nicht, dass die Chinesen plump eins zu eins imitieren?

Doch, das existiert millionenfach, zum Beispiel in der Telefonindustrie. Da werden Billig-Telefone zum Teil von denselben Fabriken verkauft, die auch die Originalgeräte herstellen. Die landen dann aber nicht bei uns, sondern in Russland oder Afrika.

Ist denn das Eins-zu-eins-Kopieren die Regel oder das Beispiel, das Sie oben beschrieben haben?

Bis vor 10 Jahren war plumpes Kopieren wohl die Regel. In den letzten 6 Jahren, seit ich an meinem Projekt arbeite, ist extrem viel passiert in Richtung Adaption und Veränderung. Ob es sich dann wirklich um eine Verbesserung in unserem Sinn handelt, ist die Frage. Ich gebe Ihnen ein lustiges Beispiel: Ein chinesischer Unternehmer reiste in den Nahen Osten und fand es seltsam, dass es kein Mobiltelefon gab, das den Muslimen anzeigt, wann sie beten müssen und in welcher Richtung Mekka liegt. Innerhalb von 3 Monaten brachte er ein solches Telefon auf den Markt, es wurde zum Bestseller. Nokia hätte dafür vielleicht 2 Jahre gebraucht.

Gibt es denn in China keinen Ehrgeiz, ein durch und durch originales Produkt zu erfinden?

Zu beobachten ist, dass man nie innehält. Man will den «ewigen Fluss» nicht unterbrechen, indem man sagt: Hier ist etwas ganz Neues, ein neu geschaffenes Original. Sondern es ist wie auf der Strasse, der Verkehr muss immer fliessen. Chinesen wollen möglichst in Bewegung bleiben. Man versucht, jede noch so kleine Lücke sofort zu schliessen, auch bei der Produktion.

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Warum sollte man etwas neu erfinden, wenn es etwas Ähnliches schon gibt? Besser, man nimmt das Vorhandene und modifiziert es nach seinen Bedürfnissen. Man nennt das heute auch «Lokalisierung» – die Anpassung an die lokalen Bedürfnisse.

Wie können sich westliche Unternehmen in diesem Umfeld behaupten?

Sie müssen auf den chinesischen Markt eingehen. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: 6 chinesische Ingenieure – alle ausgewiesene Fachleute – gründeten 2003 eine Fabrik. Sie spezialisierten sich auf die Produktion von Mühlen und der ganzen Maschinerie, die dazu gehört. Alles war kopiert von amerikanischen und dänischen Herstellern, auch Bühler Uzwil-Maschinentechnologie war dabei.

Sie verkauften sehr erfolgreich, vom ersten Moment an, auch weil sie den Markt gründlich kannten. Sie hatten Guanxi – die nötigen Beziehungen. In China freundschaftliche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen ist das Ein und Alles. Dafür braucht man Jahre.

Dieter Vögtli, der Präsident von Bühler Asien, sah, was extrem gut diese Ingenieure waren. Er sah aber auch, was ihnen fehlte. Vögtli schlug erfolgreich ein Joint Venture vor, welches das bestehende Management und die ganze Technologie in die Bühlergruppe integriert. Die Ingenieure wurden auf einen Schlag Dollar-Millionäre, und Bühler verkauft Maschinen wie wahnsinnig. Für alle ist klar, dass in diesen Maschinen eine Menge Technologie nicht von Bühler stammt. Aber jetzt sind sie in Bühler-Farben gespritzt und gut unterwegs auf dem chinesischen Markt.

Und die Schweizer Firma Bühler kriegt keine Probleme mit amerikanischen Firmen?

Nein, das ist zu lange her, diese Patente sind schon lange abgelaufen. Das sind zum Teil Technologien aus den 1980er-Jahren, die damals übernommen wurden. Doch es braucht nichts anderes. Es braucht eine Mühle, die mahlt und nur minimal integriert ist in ein ganzes System. All die ausgeklügelte Automation, die kommt erst langsam. Und hier ist Bühler dank dem Joint Venture ganz vorne mit dabei. Bei Bedarf können jetzt die an den Markt angepassten Original Bühler-Maschinen verkauft werden.

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Was sind die Perspektiven?

Es gibt heute in China eine Produktionsinfrastruktur, die über die letzten 30 Jahre dank Aufträgen aus dem Ausland gewaltig gewachsen ist. In der Region von Shenzhen zum Beispiel, in der Nähe von Hongkong, gibt es Tausende von Fabriken mit grossem Produktions-Knowhow. Nicht diese 100'000-Arbeiter-Fabriken, sondern KMUs mit 50 bis 150 Leuten. Da werden beispielsweise Karbonteile auf höchstem Niveau für italienische Edelsportwagen hergestellt.

Auf der andern Seite gibt es die Open Source-Welt. Die Welt der Silicon-Valley-Erfinder, die gemerkt hat, dass man mit 3D-Druckern rasch Prototypen machen und in den Fabriken Shenzhens für wenig Geld Kleinserien herstellen kann. China erlebt im Moment einen Boom von in- und ausländischen Start-ups. Neues Unternehmertum verbindet sich mit diesem wahnsinnigen Potential an Produktionsmöglichkeiten. Es herrscht eine Stimmung, die an den Garagen-Groove der Zeiten von Steve Jobs und Steve Wozniak erinnert.

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