Erst kürzlich war Eckhart Tolle in der Schweiz und redete, zwei Stunden lang, vor 2000 Menschen. Das Publikum an jenem Abend in Langenthal könnte man als Querschnitt durch die Deutschschweiz beschreiben.
Denken als Zwangsstörung
Eckhart Tolle redet auf der Bühne über das, was er auch in seinen Büchern schreibt: Das Denken ist eine Zwangsstörung, von der die Menschen sich befreien müssten. Doch fälschlicherweise identifizierten sie sich mit dem «Lärm im Kopf», also den Gedanken. Eigentlich aber sei der Mensch etwas viel Tieferes.
Ähnlich wie es der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart etwa mit dem «Seelenfunken» beschreibt: Im Menschen drin, in der Stille, da ist Gott. Der gebürtige Deutsche Eckhart Tolle selber wurde zum spirituellen Lehrer nach einem tiefschürfenden Offenbarungserlebnis, wie er bei der US-Talkerin Oprah Winfrey erzählte .
Er nennt es Erleuchtung und vermischt sein Erlebnis mit den Lehren zum Beispiel von Buddha oder Jesus. Seine Bücher mit den Titeln «The Power of Now» oder «A New Earth» haben sich weltweit millionenfach verkauft, seine Lesungen sind schnell ausgebucht, er tritt auf im US-amerikanischen Fernsehen.
Weniger Ego, mehr Gefühl
Was Eckhart Tolle zu haben scheint – diesen tiefen inneren Frieden – den suchen auch die Menschen im Publikum in Langenthal. So sagt zum Beispiel Sascha aus Oberdorf: «Ich bin in meinem Leben an einen Punkt gekommen, an dem ich merkte: Mit meinem Denken komme ich nicht weiter, ich bin überfordert von der Arbeit und dem Leben.» Da habe er damit begonnen, Eckhart Tolles Bücher zu lesen. Und realisiert: «Ich bin achtsamer geworden, bewusster. Auch wenn sich die Gedanken immer mal wieder in den Weg stellen.»
Irene aus dem Zürcher Unterland ist überzeugt: «Je mehr Menschen ihr Ego, ihre Gedanken ablegen, desto mehr Frieden haben wir.» Sie selber wisse, dass dieser Weg für sie wahr sei. Wieder andere an jenem Abend erzählen, dass sie auch das Gemeinschaftsgefühl an so einer Veranstaltung geniessen. Und nun erfüllt nach Hause gingen.
Zähneputzen, aber so richtig
«Eigentlich spielt die Gemeinschaft bei solchen neuen religiösen Bewegungen keine Rolle – die Botschaft auch von Eckhart Tolle zielt auf das Individuum», sagt Sebastian Murken, Religionswissenschaftler und Psychologe, der unter anderem an der Universität Luzern lehrt. Die angestrebte Veränderung müsse vom Einzelnen aus kommen.
Es gehe nicht primär um ein Erleuchtungserlebnis, sondern um Achtsamkeit. Also darum, die Gegenwart mehr wahrzunehmen, alles was man tut, bewusst zu tun. Sei es das Zähneputzen oder Schuhebinden: Ganz beim Zähneputzen oder eben Schuhbinden zu sein und nicht in Gedanken schon bei der Arbeit oder bei der Kollegin, der man unbedingt noch dies und jenes erzählen muss.
Erfolgreich ist Eckhart Tolle laut dem Religionspsychologen unter anderem, weil er eine Sprache findet, die heute verstanden wird: «Seine Sprache ist nahe bei der Alltagssprache und in seiner Botschaft sehr klar und einfach. Er verzichtet etwa auf unverständliche Bilder wie etwa das Bild von Maria Himmelfahrt, um ein christliches Beispiel zu nennen. Er bringt eher die Wissenschaft ins Spiel und deren Erkenntnis über das Gehirn, bleibt nah am Denken des modernen Menschen.»
Das Tolle der Ruhe
Das macht einen zweiten Teil des Erfolgs aus: «Eckhart Tolle spricht die Probleme des modernen Menschen an. Die ständige Reizüberflutung, das Gefühl, dem Hamsterrad nichts entgegenstellen zu können, nicht zum Eigentlichen zu kommen», so Sebastian Murken. Die sogenannten sozialen Medien machten uns mit ihrem Ich-Kult ganz erschöpft.
«Die meisten Menschen sehnen sich doch heute nach Ruhe, nach Stille. Auch im Kopf. Genau an diesen Zustand knöpft Eckhart Tolle und mit ihm die anderen modernen Weisheitslehrer an.» Dass sich Tolle und Konsorten dabei nicht in eine bestimmte Tradition verorten, bringe ebenfalls einen Vorteil. «Man braucht keine konfessionellen Vorbedingungen zu erfüllen, um mitmachen zu können. Die Lehre steht allen offen.»
Kein Guru
Das Fazit des Religionspsychologen Sebastian Murken fällt durchaus positiv aus: «Ich sehe hier keine aufdringlich missionarischen oder gar sektenhaften Elemente. Tolle selber spielt sich auch nicht als anbetungswürdiger Guru auf.»
Auch an jenem Abend in Langenthal hat man als Besucher nicht das Gefühl, einer Bewegung oder Gruppe beitreten zu müssen. Auch wenn für allerlei Seminare und Kurse geworben wird. Das zeigt: Von der Erleuchtung allein lebt auch Eckhart Tolle nicht.