- In seinem Buch «Gegen Wahlen» zeigt der belgische Historiker David Van Reybrouck, wie das Prinzip Demokratie über die Jahrhunderte funktioniert hat – und warum heute ein Wandel nötig ist.
- Heute braucht es laut Reybrouck in westlichen Demokratien wieder mehr Mitbestimmung: Eine Mischung aus Berufspolitikern und durchs Los bestimmte Bürgern sollen sich mit politischen Fragen beschäftigen.
- Die Schweiz spart Van Reybrouck in seinem Buch aus – hier sind die Stimmbürger bereits direkt am Staat beteiligt.
Bevölkerung soll sich mehr beteiligen
Der Untertitel von «Gegen Wahlen» irritiert. Denn «Warum Abstimmen nicht demokratisch ist» klingt, als wolle David Van Reybrouck die Mitbestimmung der Bevölkerung abschaffen.
Er will sie jedoch, ganz im Gegenteil, stärker an den demokratischen Prozessen beteiligen. Dies sei das Gegenmittel gegen Populismus, Technokratie und Anti-Parlamentarismus.
Blick in die Antike
Als Archäologe und Historiker hat der Belgier David Van Reybrouck lange Zeiträume im Blick. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Demokratie im antiken Athen.
Damals wurden gewisse Ämter per Los vergeben, und die Amtsträger wechselten schnell: Für einen einzigen Tag war man Richter, für ein Jahr Ratsmitglied, und das höchstens zweimal im Leben.
Das System «Lose ziehen»
Zwischen 50 und 70 Prozent der Bürger über 30 hätten einmal im Rat mitgewirkt, schreibt Van Reybrouck. Die Menschen waren Teil des Gemeinwesens, es gab keine Distanz zwischen Regierenden und Regierten.
Italienische Stadtrepubliken bestimmten bis in die Neuzeit Funktionsträger durch ein System von Auslosung und Beratung, Venedig sogar das Staatsoberhaupt, den Dogen. Dieses Verfahren sei unbestritten gewesen, weil jede der mächtigen Familien Chancen auf das höchste Amt hatte. Das System hielt sich über 500 Jahre.
Aus Angst vor dem Volk
Wahlen als Grundprinzip der Demokratie seien eine Erfindung des späteren 18. Jahrhunderts, stellt Van Reybrouck fest. Die Väter der Amerikanischen und der Französischen Revolution hätten so die Verhältnisse stabilisieren wollen. Aus Angst vor dem Volk hätten sie die erbliche Aristokratie durch eine gewählte ersetzt. Denn gewählt werde, damals wie heute, wer schon vor der Wahl Geld, Macht, Einfluss besitze.
Die übrigen Bürger aber entfremden sich womöglich dem Gemeinwesen, schreibt der 45-jährige Autor. In den heutigen westlichen Demokratien nimmt er ein «Demokratiemüdigkeitssyndrom» wahr.
Das «permanente Wahlfieber»
«Durch die kollektive Hysterie von kommerziellen Medien, sozialen Medien und politischen Parteien ist das Wahlfieber permanent geworden», schreibt Van Reybrouck.
«So etwas hat ernsthafte Folgen für das Funktionieren der Demokratie: Die Effizienz leidet unter dem Wahlkalkül, die Legitimität unter dem ständigen Profilierungsdrang. Aufgrund des Wahlsystems müssen die Langfristigkeit und das Gemeinwohl wieder und wieder hinter der Kurzfristigkeit und dem Parteiwohl zurückstehen.»
Ein möglicher Ausweg
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Den Ausweg aus eigennützigem Denken und Daueraufregung sieht David Van Reybrouck in einem Mischsystem mit Gremien aus gewählten und durchs Los bestimmten Mitgliedern. Die «Freiheit von Bürgern, die nicht wiedergewählt zu werden brauchen» will er mit der «Sachkompetenz von Berufspolitikern» kombinieren.
Sein Ziel ist eine «deliberative Demokratie»: Bürger sollen gemeinsam über Fragen von öffentlichem Interesse beraten, Experten anhören, Ideen anderer diskutieren und Empfehlungen ans Parlament abgeben. Schliesslich soll die Bevölkerung abstimmen.
Irland als Vorbild
Van Reybrouck bespricht im Buch «Gegen Wahlen» Beispiele in mehreren Ländern, wo zufällig bestimmte Bürger Ideen für Wahlreformen entwickelten und Verfassungstexte ausarbeiteten. Etwa in Irland: Dort entwarf bis 2013 ein Gremium aus 33 Politikern und 66 ausgelosten Bürgern acht Verfassungsartikel, darunter einen über die Ehe von Homosexuellen.
Dank der guten Verankerung dieser «Convention on the Constitution» in der Politik und in der Gesellschaft habe das katholische Irland in einer Volksabstimmung diesem Artikel zugestimmt.
Der Staat sind wir
Und die Schweiz? Könnte sie von David Van Reybroucks Entwurf profitieren? Die direkte Demokratie spart er in seinem Buch aus. Statt einmal alle vier oder fünf Jahre wie in den repräsentativen Demokratien füllen die hiesigen Stimmberechtigten mehrmals jährlich den Wahlzettel aus.
Auch über das Initiativ- und Referendumsrecht und die kleinräumigen förderalistischen Strukturen sind sie viel stärker in Richtungsentscheide des Staates und in Gesetzgebungsprozesse eingebunden.
Der Staat, das sind in der Schweiz nicht die Politiker in einer fernen Hauptstadt, sondern alle, die sich daran beteiligen.