Miriam Fassbender, Sie haben für Ihren Film «Fremd» mehrere Flüchtlinge porträtiert, die auf dem Weg nach Europa sind. Sie erzählen von Einzelschicksalen und geben der Masse der Flüchtlinge so ein Gesicht. Was bringt das?
Miriam Fassbender: Die Sicht der Öffentlichkeit ändert sich. Oft werden Asylsuchende als lästige Störfaktoren abgestempelt. Dabei könnte man sie auch als Bereicherung sehen. Asylsuchende sind reich an Lebenserfahrung – und sie kommen nicht hierher, weil sie das unbedingt wollen, sondern wegen ihrer Vergangenheit. Meist liegt der Entscheidung, die Heimat zu verlassen, ein langer Denkprozess zugrunde. Die wenigsten Menschen brechen aus dem Nichts auf. Indem ich meinen Protagonisten Raum einräumte und ihnen zuhörte, kommen sie einem näher und man merkt, wie ähnlich sie uns sind.
Haben die Vorbehalte gegenüber Asylsuchenden und die mediale Berichterstattung Ihre Arbeit beeinflusst?
Nein, überhaupt nicht. Ich bin ja keine Journalistin, sondern Dokumentarfilmerin. Mir war wichtig, dass meine Protagonisten wussten, worum es mir ging: um sie als Personen – wie sie an improvisierten Orten überleben, wo sie sich verstecken, wie sie in den Transitländern abgeschoben werden.
Wie sind Sie an den Film herangegangen?
Indem ich mich fragte: Wie kann ich die Problematik spannend machen für Leute, die nichts mit dem Thema zu tun haben, aber auch für jene, die sich damit schon auseinandergesetzt haben. Ich kam zum Schluss, dass man das nur mit Details erklären kann. Ich fand es spannend, meine Protagonisten in ihrem alltäglichen Leben zu beobachten und zu sehen, wie sie mit ihrer Situation umgingen. Sie sind mental wahnsinnig stark. Ich kann mir keinen Europäer vorstellen, der über Jahre hinweg versucht, irgendwohin zu gelangen oder monatelang in Wäldern wartet, ohne zu wissen, was am nächsten Tag passiert.
Das ist eine überraschende Erkenntnis im Film: Die Flucht nach Europa dauert oft mehrere Jahre und nicht – wie viele meinen – einige Wochen oder Monate. Wie gingen Sie damit um?
Als Europäerin, die mit ihrem Pass problemlos überallhin gelangt, hätte ich es anmassend gefunden, meine Protagonisten auf der Flucht zu begleiten. Stattdessen habe ich sie an den Orten des Feststeckens wieder getroffen – über drei Jahre hinweg. 2006 drehte ich drei Monate in Mali, 2007 war ich in Algerien, nochmals ein Jahr später in Marokko. Immer wieder musste ich warten, bis ich von meinen Protagonisten einen Anruf oder eine E-Mail bekam, um zu wissen, wo sie waren. Ich wollte sie auf keinen Fall an ihrem Vorwärtskommen hindern oder sie durch den Film in Gefahr bringen.
Weitere Sendungen
- Tod im Mittelmeer: Was kümmert uns das? (Arena, 24.4.15)
- FOKUS: Libyen – das Tor zur Hoffnung (10vor10, 21.4.15)
- Festung Europa (10vor10, 21.4.15)
- Zehn Punkte gegen das Massensterben (Tagesschau, 20.4.15)
- Flüchtlinge in der CH: Hoffen und Bangen (Sternstunden, 1.3.15)
- Flüchtlinge: Mitgefühl und Abschottung (Sternstunden, 8.3.15)
Was lernten Sie dabei?
Dass die Flucht nur in wenigen Fällen ein Vorwärtskommen ist. Oft zirkulieren Asylsuchende Jahre ihres Lebens vor Europa – wegen unserer Politik, weil ihnen das Geld ausgeht oder weil das Boot nicht ablegt. Damit meine Protagonisten auch am Projekt beteiligt waren, verteilte ich ihnen Kameras. Damit drehten sie Teile ihres Weges selbst – natürlich nicht wenn ihnen die Polizei im Nacken sass oder sie abgeschoben wurden. Vielmehr sollten die Zuschauer eine Idee davon bekommen, wie eine Flucht vorwärts geht – oder eben nicht.
Hat sich Ihre persönliche Sicht auf die Flüchtlingsproblematik verändert?
Mir war nicht bewusst, dass Menschen jahrelang unterwegs sind, um nach Europa zu gelangen. Nun nehme ich die Asylbewerber hier anders war, weil ich weiss, welche Geschichte sie hinter sich haben. Ausserdem lebe ich heute viel spartanischer als früher. Weil ich den Luxus, in Europa zu leben, viel mehr schätze.