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Ein junger Demonstrant unter einem Regenschirm macht mit den Fingern ein Siegeszeichen.
Legende: Auf den Spuren der Demonstrationen im Instanbuler Gezi-Park. Reuters

Gesellschaft & Religion Gezi-Park statt Grosser Basar und Krise statt Kalkterrassen

Die Blaue Moschee, die Strände von Antalya, die Ruinen von Ephesos – typische Ziele einer Türkei-Reise. Nicht aber bei den Political Tours. Die führen Reisende an Orte, die sie sonst nur aus den Nachrichten kennen. Orte des aktuellen politischen Geschehens wie der Gezi-Park in Istanbul.

Der junge Mann hält einen Zettel in die Luft. «Gezi» steht für heute auf dem Programm der Türkei-Touristen, die vor ihm in den cremefarbenen Sesseln einer Istanbuler Hotellobby versinken. «Wir werden Can Öz treffen, den Inhaber eines der grössten Literaturverlage der Türkei», erklärt der Reiseführer, der im wahren Leben Türkeikorrespondent einer englischsprachigen Politikzeitschrift ist. «Can Öz wird uns auf den Spuren der Demonstranten dieses Sommers durch Istanbul führen», erklärt er. Den neun Reiseteilnehmern ist die Begeisterung an den Augen abzulesen.

In festem Schuhwerk und Allwetterjacken treten sie hinaus in den strahlenden Istanbuler Wintermorgen. Gestern noch seien sie in Ankara gewesen, erzählt ein rüstiger Rentner aus London. Gespräche mit Politikern der regierenden AKP standen auf dem Programm. Tags zuvor durften sie im südtürkischen Gaziantep die Fabriken einiger «Anatolischer Tiger» besuchen – so werden die Geschäftsleute genannt, die der Türkei in den letzten Jahren zu ihrem raschen wirtschaftlichen Aufschwung verholfen haben. Fleissige und fromme Aufsteiger, die ihre Produkte längst aus Anatolien in die ganze Welt verkaufen.

Hinter die Kulissen schauen

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Nun also Istanbul und die Gezi-Demonstranten, für den Londoner Rentner der Höhepunkt der Reise: «Vor einigen Jahren war ich mit meiner Frau in Peru. Wir haben tagelang Inka-Ruinen besichtigt und Sehenswürdigkeiten geknipst. Nur zufällig bekamen wir mit, dass gleichzeitig in Peru Wahlen waren. Über die aktuelle Situation des Landes konnte unser Reiseführer aber nichts berichten. Wir fuhren nach Hause, ohne Land und Leute wirklich verstanden zu haben.»

Der Rentner zuckt mit den Schultern. Er wollte fortan hinter die Kulissen schauen. Er stiess im Internet auf die Political Tours des ehemaligen «NewYork Times»-Korrespondenten Nicholas Wood. Diese bieten Touren nach Nordkorea, Ex-Jugoslawien, Libyen nach der Revolution, Südafrika nach Mandelas Tod oder ins krisengeplagte Griechenland.

Oder eben Istanbul. Literaturverleger Can Öz trifft die Gruppe am Hoteleingang – und beginnt nach einer kurzen Begrüssung direkt mit seinem Vortrag. Es gibt viel zu erzählen von diesem Sommer 2013, in dem aus den Protesten gegen die Abholzung eines Istanbuler Parks in wenigen Tagen ein landesweiter Aufstand wurde.

Can Öz ist etwa halb so alt wie die meisten seiner Zuhörer aus England, Australien und Amerika. Mit der schwarz umrandeten Intellektuellenbrille und der teuren Cordjacke sieht er nicht nach jemandem aus, der tagelang demonstrierend durch die Strassen zieht. «Richtig», Can Öz grinst selbstsicher. Wie viele andere Türken auch, hielt er sich jahrelang fern von der Politik, sorgte sich um seinen wirtschaftlichen Erfolg, äusserte seinen Unmut über die Regierung höchstens unter guten Freunden. Gezi aber war der Punkt, an dem aus dem braven Literaturverleger ein überzeugter Demonstrant wurde, der bis heute bei jeder Gelegenheit Kritik an der Regierung übt.

Besser als jeder Fernsehbericht

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Während Can Öz erzählt, wie er und Hunderttausende Tag für Tag zum nahegelegenen Gezi-Park zogen, um gegen die Allmacht der Erdogan-Regierung zu demonstrieren, schlendert die Reisegruppe durch die morgendliche Istiklal Caddesi, Istanbuls zentrale Shoppingmeile. Links und rechts öffnen Händler ihre Läden, ein Strassenverkäufer schiebt ein fahrbares Frühstücksbüffet auf seinem Karren vorbei, Männer in Anzug und Krawatte eilen in ihre Büros. Nichts erinnert an das Schlachtfeld, dem die Istiklal Cadessi und ihre Seitenstrassen im Juni glichen.

Touristin Christina aus New York, mit Ende 30 eine der jüngsten in der Gruppe, schüttelt erstaunt den Kopf. Natürlich hat sie die türkischen Proteste zuhause in den Abendnachrichten verfolgt. Und dennoch: Jetzt hier zu sein, durch diese Strassen zu laufen, einen der Aktivisten von damals berichten zu hören – all das sei mit keinem Fernsehbericht zu vergleichen.

Dann liegt er vor ihnen, der inzwischen so berühmte Gezi-Park. Ein unauffälliges Fleckchen Grün mitten in Istanbul, nicht besonders gross, nicht besonders schön. Die Regierung hat frischen Rasen ausrollen lassen, um die Spuren dieses Sommers zu verwischen. Den Wandel in der türkischen Gesellschaft, die vielen Bürgerinitiativen, die seitdem entstanden sind, die Diskussion um freie Medien – all das bleibt normalen Türkei-Touristen verborgen. Der Rentner aus London schaut sich begeistert um. In einem kleinen Heft macht er sich Notizen zu dem, was er heute alles über die Türkei erfahren hat. Und ein bisschen klassischen Tourismus gibt es dann doch noch: Für den Folgetag ist eine Besichtigung der historischen Altstadt Istanbuls geplant. Ganz unpolitisch …

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