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Eine alte Zeichnung von Erasmus, im Hintergrund das moderne Basel.
Legende: Seit 500 Jahren aktuell: Erasmus' Einfluss reicht bis in die Gegenwart. Getty Images/Bildmontage

Gesellschaft & Religion Heute hat sich die Sicht von Erasmus durchgesetzt

Von ihm stammt die erste kritische Edition des Neuen Testaments, gedruckt vor 500 Jahren in Basel. Erasmus von Rotterdam, der grosse Humanist, war auch ein bedeutender Reformator. Dennoch blieb er zeitlebens in der römischen Kirche. Und stritt heftig mit Luther.

Erasmus ist sicher eine wichtige historische Persönlichkeit. Aber warum soll er uns heute interessieren?

Historikerin Christine Christ-von Wedel: Erasmus hat den historischen Blick auf den christlichen Glauben und auf das Neue Testament angestossen. Weil heute der Fundamentalismus – auch unter Christen – stark zunimmt, ist das eine wichtige Botschaft. Erasmus kämpfte gegen die damals vorherrschende Überzeugung, die Texte der Bibel seien direkt vom heiligen Geist diktiert worden.

Was halten für Sie seine grössten Leistungen?

Seinen Pazifismus. Er mahnte, Kriege seien immer schädlich, selbst wenn man den Kriegsgrund als gerecht bezeichnen könnte. Nur zum Schutz Wehrloser dürfte in allergrösster Not zu Waffen gegriffen werden. Er trat auch gegen die Todesstrafe an.

Und sein folgenschwerster Irrtum?

Er glaubte, dass mit intellektuellen Argumenten, mit Ironie und Spott notwendige Reformen durchzusetzen sind, ohne populistisch zu vereinfachen, wie das aus seiner Sicht Reformatoren wie Luther taten. Erasmus kämpfte für eine Reform von Kirche, Gesellschaft und Staat. Er hat aber nur lateinisch geschrieben, in elitärem Stil. So konnten ihn nur die Eliten lesen. Deshalb setzten sich seine Erkenntnisse erst in der Aufklärung durch.

Sie finden, er hätte radikaler vorgehen sollen? Das dachte ja auch Luther, der mit Erasmus heftig gestritten hat.

Christine Christ-von Wedel

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Die Historikerin promovierte über Erasmus, ihr Spezialgebiet ist Humanismus und Reformationsgeschichte. Letztes Jahr wurde sie für ihre Forschungen über Erasmus mit dem Basler Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Soeben ist von ihr im Verlag Schwabe «Erasmus von Rotterdam – Ein Porträt» erschienen.

Erasmus hat umgekehrt Luther vorgeworfen: Du bist zu radikal, zu grob, deine aufrührerische Polemik ist gefährlich. Zu Recht befürchtete er Religionskriege. Ich hätte mir Erasmus nicht radikaler gewünscht, sondern breitenwirksamer, gerade mit seinem ständigen Ruf zur Mässigung. Man solle langsam vorgehen, Überzeugungsarbeit leisten. Auch das war eine seiner Leistungen: die Einsicht, dass man niemanden zu seinem Glauben zwingen darf. Die Reformatoren fanden auch, Glauben sei nicht zu erzwingen, aber die «richtige Lehre» sei unerbittlich durchzusetzen. Das war für Erasmus undenkbar. Er war der Erste, der gegen die Verfolgung von Häretikern eintrat.

Sie sagen, die moderne reformatorische Theologie sei letztlich stärker von Erasmus geprägt als von den Reformatoren – eine gewagte These.

Wer lehrt denn heute noch eine Prädestinationslehre wie Calvin oder Luther? Wer legt die Bibeltexte nicht nach historisch-kritischer Methode aus? Wer betont noch die Sünde des Menschen und nicht nur die Erlösung? Heute hat sich in den evangelischen Kirchen zu diesen Fragen die Sicht von Erasmus durchgesetzt.

Was war der Kern seines Beitrags zur Reformation?

Das war seine Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer Originalsprache, gedruckt in Basel vor genau 500 Jahren. Er hat den Text ins Lateinische neu übersetzt und in Anmerkungen kommentiert. In Einleitungsschriften rief er zum Bibellesen auf und begründete die historisch-kritische Methode, wie Texte zu lesen und Theologie zu treiben sei. Damit haben die Reformatoren gearbeitet, auch Luther. Viele Anliegen der Reformation finden sich schon bei Erasmus: die Rechtfertigung allein aus dem Glauben, das Schriftprinzip. Auch das Recht auf Scheidung oder die Aufhebung des Zölibats hat Erasmus schon vor den Reformatoren gefordert.

Sie bezeichnen Erasmus als «Meister von Zweideutigkeit». Wie meinen Sie das?

Damals gab es keine Meinungsfreiheit. Wer etwas gegen die Kirchenlehre sagte, riskierte Kopf und Kragen. Erasmus formulierte sehr spöttisch, er schrieb Dialoge, die in Schulen viel gelesen wurden. Da konnte er Kühnes äussern, ohne sich auf eine Meinung festzulegen. In Bibelparaphrasen spricht er als Lukas, Matthäus oder Paulus. Als ihn die romtreue Pariser Fakultät als Häretiker angriff, erklärte er: Das sage nicht ich, das sagt Lukas. So mokierte er sich und blieb gleichzeitig in der Schwebe. Das entspricht seinem Skeptizismus: Die Menschen ringen um die Wahrheit, aber sie können in religiösen Fragen nicht über die letzte Wahrheit verfügen.

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