Die Absicht der Ausgabe ein Jahr nach den Attentaten ist klar: Es geht darum zu zeigen, dass «Charlie» lebt und sich weder vom mörderischen islamistischen Terror einschüchtern noch von den gutgemeinten Ratschlägen zur Mässigung bis zur Selbstverleugnung beeinflussen lässt.
Religionen, Spiesser, Sex und Gewalt
Im Gegenteil: Es genügt ein erster Blick in diese am 6. Januar erschienene Ausgabe, um zu sehen, dass dieselben Themen in der gewohnt exzessiv spöttischen Weise behandelt werden: die Religionen, die Spiesser und Reaktionäre, Sex und Gewalt. In der Mitte des Hefts sind entsprechende Karikaturen der Terroropfer Charb, Cabu, Wolinski, Tignous und Honoré abgebildet.
Zuerst wird jedoch in einem langen Text minutiös der Ablauf des Attentats vom 7. Januar 2015 an der Rue Nicolas-Appert geschildert. Denn viele haben seither darüber geschrieben, doch die subjektive Version der Direktbetroffenen war weniger bekannt. Auch die weniger prominenten Opfer der anderen Anschläge vor einem Jahr, der Hauswart, zwei Polizisten und die Toten im Geschäft Hyper Casher werden nicht vergessen.
Beiträge zum Thema
Auch Christen sind empört
Das Lachen ist den Zeichnern und Autoren von «Charlie Hebdo» nicht vergangen. Es tönt vor allem in dieser Nummer aber etwas bitter oder vielleicht auch rachsüchtig aus den Karikaturen, in denen die Islamisten verhöhnt werden.
Schon das Titelblatt gibt den Ton an. Darauf ist eine Art «Gottvater» mit weissem Bart und einem Dreieinigkeitssymbol über dem Kopf zu sehen. In einem blutverschmierten Gewand und einer umgehängten Kalaschnikow rennt er davon.
Anklagend schreibt der neue Chefredaktor Riss dazu: «Ein Jahr später: Der Mörder ist noch auf freiem Fuss.» Diese Karikatur genügte, um noch vor dem Erscheinen dieser Grossauflage von mehr als einer Million Exemplare im Internet bereits eine neue Polemik über die Blasphemie von «Charlie Hebdo» zu entfachen.
Neben Muslimen empören sich auch Christen auf Twitter, dass gegen monotheistische Religionen ein Generalverdacht wegen terroristischer Gewalt erhoben werde.
Das neue Symbol der Pressefreiheit
In seinem Leitartikel pocht Riss, der selbst schwerverletzt worden war, auf das Recht der Satire, gegen alle Konventionen zu verstossen. Seit den Anfängen habe man bei «Charlie Hebdo» gewusst, dass mit jeder Nummer die Existenz der Publikation und womöglich auch die der Zeitungsmacher aufs Spiel gesetzt werde: «Ja, viele wünschten unseren Tod. Unter ihnen die vom Koran verblödeten Fanatiker, auch die Frömmler anderer Religionen, die uns in ihre Hölle schicken wollen, weil wir uns erkühnen, über das Religiöse zu lachen.»
Statt Konkurs zu gehen, ist «Charlie Hebdo» über Frankreich hinaus eine Institution und ein Symbol der Pressefreiheit geworden. Darum steuern zum Jahrestag der versuchten Ermordung der Satirezeitung verschiedene internationale Persönlichkeiten wie Taslima Nasreen oder Russel Banks Texte bei, und die Schauspielerin Isabelle Adjani würdigt die Freiheit von «Charlie» in einem schönen Gedicht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 6.1.2016, 17:15 Uhr